Kipp-Punkte des Klimas : Kurs auf den „Point of no Return“
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Geht die ganze Welt unter, wenn das Great Barrier Reef stirbt, ... Bild: dpa
Kippelemente, das klingt irgendwie nach Kinderspiel. Für Klimaforscher sind sie das Thema hitziger Debatten.
Die UNO hat die zu Ende gehende Dekade gerade zum heißesten Jahrzehnt der Geschichte gekührt. In Deutschland nehmen die Extremwetter-Ereignisse deutlich zu, und angesichts von Hitzewellen, Dürreperioden, Waldbränden, Gletscherschmelze und Wirbelstürmen weltweit fragt man sich, was eigentlich noch alles passieren kann. Die Menschheit müsse wählen zwischen dem Weg der Hoffnung und dem der Kapitulation beim Klimaschutz, erklärte UN-Generalsekretär António Guterres vor Vertretern aus fast zweihundert Ländern in Madrid.
Die vergangenen fünf Jahre seien weltweit die heißesten gewesen, die jemals gemessen wurden. In Sichtweite der Punkt, an dem kein Umlenken mehr möglich sei. Unter Kapitän Homo sapiens nimmt die Erde nach wie vor Kurs auf einen „Point of no Return“. Was allerdings gemeint ist, wenn Klimaforscher von „tipping points“ sprechen, ist wiederum eine andere Sache. Pünktlich zur Weltklimakonferenz in Madrid erschien in der Zeitschrift „Nature“ ein Kommentar, der eindringlich warnt, es sei zu riskant, die „climate tipping points“ zu missachten.
Die üblichen Verdächtigen
Sieben Forscher, darunter mit Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber zwei bekannte Namen aus Deutschland, werden auf vier Seiten zur einstimmigen Kassandra. Sie widmen sich einer Reihe von Ökosystemen, sogenannten Kippelementen, die aufgrund des Temperaturanstiegs ab einem gewissen Schwellwert, dem Kipp-Punkt, zusammenbrechen. Oder in einen neuen, stabilen Zustand übergehen können. Das Umkippen könnte ihrer Definition nach sogar reversibel sein.
Als ein Beispiel nennen die Autoren die Eismassen auf Grönland. Diese würden heute schneller als in der Vergangenheit schmelzen und könnten an einen Punkt gelangen, an dem dort alle Gletscher verschwinden. Unwiederbringlich. Ein positiver Rückkopplungseffekt wirke sich aus und beschleunige den Schwund, wenn die noch mehr als 3000 Meter hohe Eisdecke schmelze, ihre Oberfläche dadurch in tiefere Lagen rutsche und milderen Temperaturen ausgesetzt ist.
Die Sieben befürchten, dass ein einzelnes Kippelement möglicherweise nicht für sich alleine untergehe, sondern eine ganze Kaskade ähnlicher Vorgänge auslösen könnte, und fordern die Politik zum sofortigen Handeln auf. Bevor all diese Elemente kippen. Welche Zusammenhänge zu berücksichtigen seien, schildern die Kommentatoren in „Nature“ am Beispiel des Golfstroms. Denn das Abschmelzen des Grönlandeises wirke sich auf diese Nordatlantische Umwälzungsbewegung aus. Der Golfstrom transportiert warmes Wasser vom Äquator nach Norden in ein Gebiet nahe Grönland. Dort kühlt sich das Wasser ab, es verdunstet teilweise oder wird zu Eis, woraufhin sich der Salzgehalt erhöht. Die Dichte verändert sich, weshalb die Wassermassen dort nach unten sinken, was immer neue Mengen nachziehen lässt. In zwei bis drei Kilometern Tiefe strömt das Wasser dann wieder zurück nach Süden.
Lokales und globales Kippen
Wenn nun das Grönlandeis schmilzt und die Temperaturen steigen, beeinflusse das Salzkonzentration und den Wärmegradienten im Nordatlantik so stark, dass der Golfstrom sich verlangsamen oder gar versiegen, also kippen könnte. Keine dystopische Phantasie, das Risiko könnte bestehen. Es gebe mittlerweile gute Belege, die zeigen, dass sich der Golfstrom während der letzten Eiszeit rapide verändert habe, sagt Martin Claußen, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Das rechtfertige seiner Meinung nach die Klassifizierung als ein mögliches Kippelement. Ungewiss sei allerdings, ob eine solch rasche Änderung in einer deutlich wärmeren Welt passieren könne. Die verschiedenen Modelle kämen zurzeit noch auf sehr unterschiedliche Ergebnisse. Ihm widerspricht Bjorn Stevens, der am selben Institut die Abteilung „Atmosphäre im Erdsystem“ leitet, in gewisser Weise, denn er hält den Begriff Kippelement selbst für irreführend. Vor allem, weil man damit eine abrupte globale Klimaveränderung assoziiere, was aber nicht immer gemeint sei.
Stevens schlägt stattdessen vor, in drei Kategorien zu denken. Zur ersten zählen lokale Kippelemente, die nur sich selbst beeinflussen und ihre direkte Umgebung. Zum Beispiel der spontane Abgang einer Lawine. Oder ein Phasenübergang, wenn Wasser gefriert. Als zweite Kategorie bezeichnet Stevens Kippelemente, deren Auswirkungen nicht nur lokal, sondern global messbar sind. „Wenn das Grönlandeis geschmolzen ist, wird das auch in irgendeiner Weise die Messungen in der Antarktis beeinflussen.“ Das sei die Kategorie, um die es den Kommentatoren in erster Line gehe. In die dritte, dramatischste Kategorie fallen wirklich globale Kippelemente: Sollten sich Bedingungen weltweit in einer synchronisierten Art und Weise ändern. „Wenn die Erde kalt genug wird, gibt es eine starke positive Rückkopplung, die zur Folge hat, dass der gesamte Planet mit Eis bedeckt wird“, schildert Stevens als Beispiel einen Zustand, den er und seine Kollegen „Schneeball-Erde“ nennen. Und der trat vor 700 Millionen Jahren vermutlich zum letzten Mal auf.
Die Erde ist zum Glück nicht die Venus
Wie ein schriller Kontrast dazu erscheint der Runaway-Greenhouse-Effekt: Ab einem gewissen Punkt sorgt die Erderwärmung dafür, dass Wasser verdunstet, das dann dauerhaft in der Atmosphäre bleibt und dort als Treibhausgas die Temperaturen auf der Erde höher treibt. So geht es immerzu weiter, bis schließlich das gesamte Wasser verdunstet ist. Auf der Venus könnte sich dieses Szenario so abgespielt haben. Aber selbst der aktuelle, vom Menschen noch befeuerte Klimawandel würde wohl nicht ausreichen, um der Erde das gleiche Schicksal zu besiegeln. Zumindest darüber sind sich die Klimaforscher einig. Gestritten wird aber heftig, ob die oft zitierten Kipp-Punkte überhaupt existieren. Claußen hält das Konzept durchaus für sinnvoll, weil es auf plötzliche Veränderungen im Klimasystem hinweise. Der Hamburger Forscher bringt noch weitere Kippelemente ins Spiel, ein Kandidat sei der schwindende Regenwald am Amazonas. Oder das Meereis in der Arktis, dessen Rückgang sich anhand von Satellitenbildern beobachten lässt. „Die Forschung ist allerdings noch nicht so weit, dass man von allgemein anerkannten zukünftigen Kippelementen sprechen könne“, sagt Claußen. Dafür müsste man die regionalen Klimaveränderungen genauer vorhersagen können. Daran mangle es aber noch.
In Nature verteidigen die sieben Wissenschaftler den teils spekulativen Charakter ihres Beitrags damit, dass das hohe Risiko der Kippelemente ihren Aufruf zum sofortigen Handeln rechtfertige. Eine Logik, die Stevens nicht überzeugt, da Klimaskeptiker ihre Argumente auf ähnliche Weise arrangieren. Wenn auch mit umgekehrter Zielsetzung. „Solch ein Aufsatz macht Leute, die sich ohnehin schon Sorgen machen, noch besorgter“, sagt der Atmosphärenforscher. Und jene, die denken, dass die Klimaforschung zu alarmierend ist, erhalten einen Grund, das auch weiterhin zu denken.
Um jeglichen Missverständnissen vorzubeugen: Auch Stevens nennt den Handlungsbedarf in der Klimapolitik „akut“. Aber die Abläufe auf der Erde seien nun mal komplizierter, als das die bisherigen Modelle beschreiben können. „Wissen Sie, was passiert, wenn die Gletscher der Antarktis oder in Grönland schmelzen und in tiefere Lagen absinken?“, fragt Stevens und gibt die Antwort selbst: „Dann wird es mehr Schneefall geben, weil es dafür nicht zu kalt sein darf.“ Und was passiert, wenn der Golfstrom stoppt? Es würde zunächst viel kälter in Grönland und der Arktis werden. Wie das ins Bild der globalen Erderwärmung passt? Es ist eben kompliziert. Das Narrativ der „climate tipping points“ ist nicht schwer zu verstehen. Je näher man die Dinge aber betrachtet, desto ungewöhnlicher werden sie. Stevens spricht von „Überraschungen“, und davon habe die Erde noch einige für uns parat.