Alpen ohne Eis
Von ANDREAS FREY31. August 2021 · In Deutschland wird es schon bald keine Gletscher mehr geben. Ein Besuch am Sterbebett des Nördlichen Schneeferner auf der Zugspitze.
Sein Ende ist nah, die Lage hoffnungslos. Ein paar Jahre noch, höchstens Jahrzehnte, dann wird der Nördliche Schneeferner der Vergangenheit angehören. Und nicht nur er. Auch die vier anderen Gletscher in den Bayerischen Alpen werden früher oder später verschwinden. Das ewige Eis vergeht, Deutschland verliert ein Element seiner Landschaft – und nichts kann das verhindern. Selbst ambitionierter Klimaschutz könnte die meisten Gletscher nicht mehr retten, das hat der Weltklimarat in seinem jüngsten Bericht noch einmal bestätigt.
In der Zugspitzbahn sitzt ein Mann, der den Verlust der deutschen Gletscher seit Jahren wissenschaftlich untersucht. Sterbegleiter könnte man ihn nennen, aber das wäre ihm zu pathetisch. Wilfried Hagg ist Glaziologe, Professor an der Hochschule München, und bevorzugt professionelle Distanz zu seinem Forschungsgegenstand. Aber traurig findet er es schon. Jedes Mal, wenn er der Bahn auf dem Zuspitzplatt entsteigt und in Richtung Schneefernerkopf blickt, ist der Eisstrom wieder geschrumpft. Nur der Name „Gletscherbahnhof“ wird dereinst daran erinnern, dass es solche bedächtig talwärts strömenden Eismassen auch in Deutschland einmal gab.
Heute strömen vor allem Touristenmassen auf den völlig verbauten Berg. Es ist Ende Juli und schwül, die Pandemie scheint hier überwunden, im Gletscherrestaurant werden Geschnetzeltes und Almdudler gereicht, die Bänke sind fast alle besetzt. Wilfried Hagg ist heute mit seinen Studenten auf Exkursion hier, doch das Studienobjekt ist unter einer Altschneedecke verschwunden. Hagg ist überrascht, so viel Schnee habe er zu dieser Jahreszeit hier oben noch nicht gesehen. Ein schneereicher Winter und ein kühles Frühjahr haben dem Eis eine Galgenfrist beschert. Schnee schützt den Gletscher wie eine Decke.
Das ändert freilich nichts an seinem Schicksal. Der Gletscher wird auch nach diesem Sommer mehr Masse verloren haben, als er im Winter zugelegt hat. Selbst vergleichsweise kühle Temperaturen können das Tauen in den Alpen nicht aufhalten. Sogar ein Durchschnittssommer frisst die Zuwächse des Winters auf. Damit sich ein Gletscher hält, müsse er auch im Sommer zu zwei Dritteln von Schnee bedeckt sein, erklärt Hagg. Das kam hier zuletzt Ende der Siebzigerjahre vor, als kühle Sommer noch die Regel waren und manche Wissenschaftler vor einer neuen Eiszeit warnten.
Es kam anders. Die Sommer wurden wärmer und wärmer, seit den 1980er Jahren schmilzt vom Nördlichen Schneeferner mehr Eis ab, als hinzukommt. Seither ist der Gletscher nicht mehr vorgestoßen, stattdessen zieht er sich zurück. Und stirbt. Wilfried Hagg erklettert einen kleinen Hügel und blickt auf die Eisreste auf dem Zugspitzplatt. Seit wann sind sich die Glaziologen sicher, dass die Gletscher sterben? „Seit den Neunzigerjahren wissen wir es genau“, antwortet er. „Die Gletscher gehen und kommen nicht mehr zurück.“ Sie schmelzen sogar rascher als noch vor Jahren erwartet. Neue Modellierungsergebnisse deuteten darauf hin, dass es für den Schneeferner schon in den Dreißigerjahren des 21. Jahrhunderts zu Ende gehen könnte.
Hagg geht ein paar Schritte weiter. Am Ende des Hügels ist eine Tafel im Boden befestigt. Sie zeigt ein Foto des Gletschers aus dem Jahr 2006. „Fun Fact“, sagt Wilfried Hagg zu den Exkursionsteilnehmern, „dieses Bild ist von mir.“ Dann dreht er die Tafel um. Zu sehen ist jetzt ein Schwarz-Weiß-Bild von 1942, ein Gletscher in voller Pracht, aufgenommen von Johann Hagg, seinem Vater. Man muss kein Glaziologe sein, um die Botschaft dahinter zu verstehen. Gletscherrückzüge sind das sichtbarste Zeichen des Klimawandels. Eis lügt nicht.
Schaut man aber auf den aktuellen Zustand, scheint 2006 noch ein gutes Jahr gewesen zu sein. Heute hat der Gletscher seine Zunge fast vollständig verloren. Fels ragt aus der Firndecke, weiter unten hat sich ein kleiner See gebildet. Toteis liegt traurig auf dem Platt herum: kleine, weiße Berge, die an Eisbären erinnern, um deren Zukunft man sich ja ebenfalls sorgen muss. Toteis nennen die Glaziologen Eisreste, die nicht mehr mit dem Gletscher verbunden sind und sich daher nicht mehr bewegen. Das Toteis markiert die einstige Ausdehnung des Gletschers, häufig ist es mit Schutt überzogen. Als Wilfried Hagg vor einem Jahr hier oben stand, sah der Gletscher noch kränker aus. Die Oberfläche sei im Juli 2020 bereits völlig aper gewesen, erinnert er sich, der schützende Schnee also völlig abgetaut. Statt einem blauen Eisstrom lag da nur eine verschmutzte Masse.
Weniger sichtbar, aber viel wichtiger als der Verlust an Fläche ist der Verlust an Masse eines Gletschers. Die Glaziologen wollen nicht nur wissen, wie weit sich ein Gletscher zurückzieht, sondern auch, wie sich sein Volumen verändert. Die Massenbilanz entscheidet über die Zukunft eines Gletschers. Um sie zu messen, stecken die Forscher immer im Herbst an bestimmten Stellen Stangen metertief ins Eis. Wird das folgende Jahr sehr heiß, ragen sie im Herbst darauf wie Kerzen aus einer Torte. Daran zeigt sich, wie sich die Massenbilanz des Eises verändert hat. Zudem berechnen die Forscher heute die Eisdicke mit modernen Mitteln, Laserscans etwa. Der Befund: Seit den Achtzigerjahren ist die Massenbilanz der meisten Gletscher in den Alpen durchweg negativ.
Die Vermessung des Eisvolumens ist schwieriger als die der Fläche. Entsprechende Satellitendaten gibt erst seit den späten Siebzigerjahren. Davor ist die Datenlage dünn und uneinheitlich. Hagg musste die verschiedenen Datensätze zunächst homogenisieren und digital aufbereiten, um für alle bayerischen Gletscher Geländeprofile zu erstellen. Zuvor hatte er sich mit Eis im Himalaja befasst, in Gegenden, in die man nur schwer gelangt. Dann wandte er sich 2005 den Gletschern seiner Heimat zu. Hier kommt man auch mit einer Tagestour zu einem Datensatz, ohne etwa drei Wochen schönsten bayrischen Sommers für eine Fernreise opfern zu müssen.
In diesem Sommer hätte er wenig verpasst. Auch an diesem Julitag ziehen dicke Wolken über das Zugspitzplatt. Nun geht es hinunter zum Gletscher. Hagg schlittert auf Schuhen gekonnt den seifigen Hang hinab, strauchelt kurz, fällt aber nicht. Die anderen Exkursionsteilnehmer folgen vorsichtig, aber stehen bleibt niemand. „Die größten Schmelzraten gibt es an der Zunge“, sagt er wenig später und stapft mit dem Fuß in den Altschnee. Doch selbst ein Gletscher mit einer negativen Massenbilanz fließe nach unten, solange von oben genug Eis nachkomme. Das sei, streng genommen, kein Zurückziehen, eher ein Rückschmelzen.
Regen setzt ein, dicke Tropfen prasseln vom Himmel. Das mache dem Gletscher nicht so viel aus, erklärt Wilfried Hagg. Hitze sei schlimmer. Dann können am Tag bis zu zehn Zentimeter abschmelzen. Im Schnitt verlieren die bayerischen Gletscher jährlich ein bis zwei Meter an Eisdicke, in besonders heißen Jahren wie 2015 oder 2003 noch mehr. Vor ein paar Jahren konnte Hagg noch einen imposanten Vergleich bemühen, um zu erklären, wie dick das Eis im Nördlichen Schneeferner noch immer ist. Aus der Vogelperspektive erahnt man ja nicht die kesselförmige Vertiefung, in die sich der Gletscher gebettet hat. Gut fünfzig Meter dick war das Eis in dieser Karmulde noch vor zehn Jahren, erzählt er, der Berliner Reichstag wäre darin komplett verschwunden. Jetzt reicht es mit 33 Meter Dicke nur noch für den Obelisken auf dem Münchner Karolinenplatz. Da war der Vergleich mit dem Reichstag natürlich wirkungsvoller.
Drei Gletscher gibt es heute noch auf der Zugspitze, den Südlichen und den Nördlichen Schneeferner sowie den Höllentalferner. Letzterer ist mittlerweile der größte Gletscher Bayerns, seine Lage in einer beschatteten Senke nördlich des Zugspitzgipfels schützt ihn vor direkter Einstrahlung und hohen Schmelzraten. Der Höllentalferner ist der einzig verbliebene Gletscher mit einer echten Gletscherzunge, genährt wird er mit großzügigen Lawinenfrachten der umliegenden Bergschultern. Allerdings ist auch seine Bilanz negativ, seine Zukunft aber aufgrund seiner besonderen Lage nicht ganz so hoffnungslos.
Südlicher und Nördlicher Schneeferner sind die isolierten Reste des einst mächtigen Plattachferners, der fast das gesamte Zugspitzplatt bedeckte. Zum Höhepunkt der kleinen Eiszeit vor zweihundert Jahren bedeckte dieser eine Fläche von 300 Hektar, heute sind davon insgesamt 18 Hektar übrig. Der Südliche Schneeferner mit kaum zwei Hektar Fläche war nach dem Zerfall des Plattachferners sogar der größte Gletscher in Deutschland, schmolz aber schneller dahin, weil er nicht in einer ausgeprägten Karmulde liegt und der Sonne stärker ausgesetzt ist. Heute ist der Südliche Schneeferner faktisch tot. Denn ein Gletscher muss sich bewegen, um einer zu sein – sonst besteht er eigentlich nur noch aus Toteis. Ähnliches gilt für den Watzmanngletscher und das Blaueis in den Berchtesgadener Alpen. Der niedrig gelegene Watzmanngletscher auf gut 2000 Metern ist großteils nur noch mit Schutt bedeckt, das Blaueis in mehrere Teile zerschlagen. Ihre Tage sind gezählt.
Die Eisverluste der bayerischen Gletscher sind enorm. So weist es der zweite bayerische Gletscherbericht von Anfang dieses Jahres aus. Von 2009 bis 2018 haben die fünf Gletscher 62 Prozent ihres Volumens verloren. Die Gesamtfläche reduzierte sich von 70,4 Hektar im Jahr 2012 auf 44,6 Hektar im Jahr 2018. Im Vergleich zum Jahr 1850, zum Zeitpunkt des maximalen Gletschervorstoßes in den Alpen seit Beginn der Aufzeichnungen, ist die Gesamtfläche sogar auf weniger als ein Drittel zusammengeschmolzen.
Nicht überall in den Alpen ist die Entwicklung derart dramatisch. Aber in Österreich, Italien, Frankreich und der Schweiz liegen die Gletscher teilweise deutlich höher und sind um ein Vielfaches ausgedehnter. Trotzdem, im Vergleich zur Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich auch ihre Fläche mehr als halbiert, und seit der Jahrtausendwende beschleunigt sich die Schmelze, auch in diesem eher kühlen Sommer. Abgerechnet werde nämlich erst Ende September, sagt Matthias Huss von der ETH Zürich. Einige Alpengletscher hingegen sind bereits heute Geschichte, wie etwa der Pizol in der Ostschweiz, der vor zwei Jahren symbolisch beerdigt wurde.
Ganz so weit ist es auf dem Zugspitzplatt noch nicht, zumindest hinsichtlich des Nördlichen Schneeferners. Aber viel Zeit bleibt nicht mehr, um die letzten deutschen Gletscher zu bestaunen. Und der Rückzug des Eises wird nicht geräuschlos verlaufen: Steinschläge und Felsstürze würden sich häufen, sagt Wilfried Hagg. Mit Auswirkungen auf die Wasserverfügbarkeit rechnet er aufgrund der geringen Größe der bayerischen Gletscher hingegen nicht. Probleme mit der Wasserversorgung wird es jedoch in den Trockengebieten der Anden und des Himalajas geben. Dort ist man auf Gletscherwasser angewiesen.
Ein anderes Problem könnte langfristig allerdings auch die Zugspitze treffen: das Tauen des Permafrosts, des Kitts der Berge. Am „Schneefernerhaus“ am gegenüberliegenden Hang wird dieser Prozess in einem Stollen erforscht, das ehemalige Hotel ist heute Forschungsstation. Mit der Seilbahn schwebt man über den Nördlichen Schneeferner hinüber, Hagg entdeckt dabei im Eis neue Löcher und einen See. Im Schneefernerhaus angekommen, muss man einige Treppen nach oben steigen, dann öffnet sich ein Stollen in den Berg. Kühl und dunkel ist es darin, nach einiger Zeit wird es rutschig. Blankes Eis überzieht den Fels: der Permafrost. Schon in dreißig Jahren wird auch dieses Eis verschwunden sein.
Was dann der Zugspitze und den umliegenden Tälern droht, lässt sich bei der Abfahrt von Deutschlands höchstem Berg gut erkennen. Am Fuße der Zugspitze schimmert türkisfarben der Eibsee, ein beliebtes Ausflugsziel. Der See entstand vor 3800 Jahren als Folge eines gewaltigen Bergsturzes, als das Klima in der Bronzezeit kurzzeitig wärmer wurde. Einen Bergsturz solchen Ausmaßes schließen die Geologen in näherer Zukunft zwar aus, aber so stabil wie früher werden die Berge nicht mehr sein, wenn das Eis von uns gegangen ist.
Der Planet taut
Von REBECCA HAHN29. August 2021 · Der Klimawandel lässt überall auf der Welt die Gletscher schrumpfen. Davon muss man zwar schon lange ausgehen, aber erst jetzt lassen sich die Verluste genauer beziffern.
Vom Eis auf dem Puncak Jaya ist kaum noch etwas übrig. Wer sich durch die historischen Satellitenaufnahmen des 4884 Meter hohen Berges auf dem indonesischen Westteil Neuguineas klickt, dem ergeht es kaum anders als dem Betrachter von Animationen zur Geschichte der bayrischen Alpen, von denen an anderer Stelle in diesem „Spezial“ die Rede ist. Auch die weißen Flächen am höchsten Gipfel Ozeaniens werden stetig kleiner. 1985 ist das Eisfeld noch über zwei Kilometer lang und mehr als 700 Meter breit, dreißig Jahre später ist es in der Länge um die Hälfte geschrumpft. Im Sommer 2020 ist nur noch eine kleine Mulde bedeckt. 93 Prozent seines Gletschereises hat der Puncak Jaya zwischen 1980 und 2018 verloren, wie eine kürzlich im Fachblatt Global and Planetary Change veröffentlichte Studie zeigt. Ähnlich verheerend sieht die Entwicklung in Afrika am Kilimandscharo aus, dessen Eiskappe zwischen 1986 und 2017 bereits 71 Prozent einbüßen musste.
Außerhalb der Tropen nimmt das große Tauen ebenfalls seinen Lauf. Unzählige Untersuchungen belegen das Schrumpfen von Gletschern überall auf dem Planeten. Wie sich die Gesamtheit der Eismassen weltweit genau verändert, ließ sich bis vor Kurzem nicht mit Sicherheit sagen. Zur globalen Gletscherschmelze bot eine im April 2021 veröffentlichte Studie erstmals einen differenzierten Überblick. Deren Ergebnisse sind im aktuellen Bericht des Weltklimarats berücksichtigt.
Ein Beispiel aus der Westantarktis zeigt, wie komplex die Dynamik des Eisverlusts sein kann: Untersuchungen des Thwaites-Gletschers, an denen Forscher des Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven beteiligt waren, ergaben gleich drei verschiedene Faktoren, die das Schmelzen des Eises vorantreiben. Zum einen wird dieser Gletscher durch den Klimawandel aufgeheizt, andererseits liegt er großflächig auf dem Meeresboden auf, wo er von warmen Wassermassen umspült wird. Gleichzeitig, so fanden die Forscher über Erdmagnetfeld-Datensätze nun heraus, steigt unter dem Eis ungewöhnlich viel Wärme aus dem Erdinneren auf, was die Schmelze zusätzlich beschleunigen könnte. Ein internationales Forschungsteam soll nun mithilfe von Bohrungen überprüfen, wie groß der Einfluss der Erdwärme ist. Eine andere Frage ist, wie sich der westantarktische Gletscherschwund auf die vulkanische Zone auswirkt, die dort unter dem Eis schlummert.
Die Mehrzahl der Gletscher ist zu abgelegen für regelmäßige Untersuchungen vor Ort. Direkt im Gelände überwacht werden nur wenige Hundert der insgesamt rund 220 000 Eisströme der Erde, die übrigen erkunden Glaziologen meist nur aus der Ferne. „Auf der globalen Skala ist die Gravimetrie eine der relevantesten Methoden zur Massenabschätzung von Gletschern“, sagt Ben Marzeion von der Universität Bremen. „Dabei misst man direkt, wie sich die Eismasse verändert, indem man Änderungen des Schwerefelds der Erde misst.“
Das Verfahren birgt jedoch Unsicherheiten. So erlauben gravimetrische Messungen nur eine grobe räumliche Auflösung. „Wenn man sich etwa für den nordatlantischen Raum und die Arktis interessiert, kann man nicht sauber unterscheiden, ob der Massenverlust in Grönland oder in der kanadischen Arktis stattgefunden hat“, erklärt Marzeion. Außerdem kann nicht nur Eis die Änderungen hervorrufen: „Im Messsignal wird auch sichtbar, wenn sich die im Boden gespeicherte Wassermenge verändert oder wenn sich durch Tektonik Massen im Erdinneren verschieben.“ Die im April im Fachmagazin Nature veröffentlichte Bestandsaufnahme der Gletscherschmelze – der auch die hier gezeigte Weltkarte entnommen ist – beruht daher auf einer anderen Methode. Statt die Eismassen direkt zu messen, schaut man sich die Höhe der Eisoberfläche an, um Änderungen im Volumen der Gletscher festzustellen. Ein Team um den Glaziologen Romain Hugonnet, der an der ETH Zürich und der Universität Toulouse forscht, wertete dazu fast eine halbe Million Satellitenbilder aus dem Zeitraum von 2000 bis 2019 aus, die nahezu alle Gletscher auf dem Globus abdecken.
Je größer die Kreise, umso deutlicher hat sich das Gletschervolumen in der jeweiligen Gegend verändert. Abgeleitet werden diese Werte aus Veränderungen der Oberflächenhöhen der Gletscher.
Der hellgrüne Keil innerhalb der Kreise gibt an, welchen Anteil die an Land endenden Gletscher an der Massenveränderung hatten, der Anteil der im Meer mündenden ist in Hellblau dargestellt.
Der äußere Ring zeigt den jeweiligen Flächenanteil. Die blaugetönten Zeitreihen unterhalb der Kreise zeigen, wie genau die Gletscher der betreffenden Region dafür jedes Jahr beobachtet werden konnten.
An den Zeitreihen in Rot- und Gelbtönen lässt sich schließlich ablesen, um wie viele Meter sich die Höhe der Gletscher in jedem einzelnen Jahr durchschnittlich verändert hat.

Quelle und Kartengrundlage: Hugonnet et al., 2021, Nature/F.A.Z.-Grafik Sieber
Bisherige Untersuchungen dieser Art hatten sich auf einzelne Gletscher oder Regionen konzentriert. Entsprechend groß waren die Unsicherheiten noch bei der Abschätzung der globalen Massenbilanz für den im Jahr 2018 veröffentlichten IPCC-Sonderbericht zum Ozean und den Eisgebieten. Der durchschnittliche weltweite Eismassenverlust für den Zeitraum von 2006 bis 2015 war damals auf 278 Gigatonnen pro Jahr beziffert worden, aber mit einem Schwankungsbereich von minus 165 bis 391 Gigatonnen pro Jahr. Die neue Analyse liefert nun einen viel genaueren Wert: Zwischen 2000 und 2019 gingen den Gletschern 251 bis 283 Gigatonnen Eis pro Jahr verloren, wobei Grönland und die Antarktis mit Ausnahme der Gletscher an den Rändern der dortigen Eisschilde nicht berücksichtigt sind.
Frei von Unsicherheiten ist auch diese Studie nicht. „Man kann die Höhe der Schnee- oder Eisoberfläche zwar ziemlich genau von Satelliten aus vermessen“, sagt Marzeion. „Das Problem ist allerdings, dass man dabei eine Volumenänderung misst und nicht direkt die Gletschermasse.“ Veränderungen des Volumens müssten jedoch nicht immer mit Veränderungen der Masse einhergehen: „Es kann zum Beispiel sein, dass das Volumen des Gletschers abnimmt, er aber gar nicht an Masse verliert, zum Beispiel wenn sich der Schnee setzt und verdichtet.“ In Gegenden, in denen es viele Vor-Ort-Messungen gebe, lasse sich der Einfluss solcher Effekte gut abschätzen. Wo man nicht wisse, wie sich die Dichte von Schnee und Firn verändert hätte, ginge das hingegen nicht so gut. Dennoch liefert die Studie der elf Glaziologen und Geografen aus Europa und Kanada die bisher genauesten Abschätzungen zur Entwicklung weltweit. Mit diesen lassen sich auch die Prognosen zum Anstieg der Meere präzisieren. Die Summe des zwischen 2000 und 2019 verflüssigten Gletschereises erkläre rund ein Fünftel des in diesem Zeitraum beobachteten Anstiegs des Meeresspiegels, schreiben Hugonnet und seine Kollegen. Künftig könnten die Pegel noch schneller steigen, denn die Gletscher verlieren von Jahr zu Jahr mehr Masse, manche mit einer jährlich weiter ansteigenden Rate.
Das Tauen der asiatischen Gebirgsgletscher ist nicht nur für den Meeresspiegelanstieg relevant. „In diesen Regionen strömt das Schmelzwasser, anders als etwa in Grönland oder der Antarktis, noch an ziemlich vielen Menschen vorbei, bevor es das Meer erreicht“, sagt Ben Marzeion. Dass es sich unterhalb von rapide schmelzenden Eismassen durchaus gefährlich lebt, zeigt eine im Mai in Nature Climate Change veröffentlichte Studie. Deren Autoren aus China und der Schweiz haben das Risiko für Fluten durch ausbrechende Gletscherseen untersucht: Werden diese zu groß, können sich die Wassermassen sturzflutartig ihren Weg ins Tal bahnen und dabei Gestein oder ganze Felsblöcke mitreißen. Derzeit sei das Risiko für derart gewaltige Ausbrüche insbesondere im östlichen Himalaja hoch, schreiben die Forscher. Bis zur Mitte des Jahrhunderts könnten weitere Gebiete von solchen Fluten bedroht sein.
In einigen Regionen sind die Menschen aber auch auf die Schmelze in den Bergen angewiesen: „Sie brauchen das Wasser für die Landwirtschaft oder zur Nutzung in den Haushalten“, erklärt Marzeion. In den östlichen Abflussgebieten aus den asiatischen Hochgebirgen spiele das Schmelzwasser für die Versorgung keine Rolle, der Monsun liefere dort genügend Wasser. Weiter westlich hingegen, etwa im Einzugsgebiet des Indus oder des Aralsees, könnte es ohne das Schmelzwasser im Sommer zu Wasserknappheit kommen.
Noch ist es nicht so weit. Bis „peak water“, der maximale sommerliche Abfluss, überschritten ist, wird es in Asien nach Einschätzung der Forscher noch einige Jahrzehnte dauern. Unterdessen schreitet die Eisschmelze auch in kleineren Gletschergebieten rapide voran. In Neuseeland etwa ermittelten die Glaziologen für die Jahre 2015 bis 2019 eine jährliche Abnahme der Eisdicke um etwa einen bis zwei Meter. Damit taute das Eis in diesem Zeitraum fast siebenmal so schnell wie von 2000 bis 2004.
Gletscher, die ins Meer münden, machten nur etwa ein Viertel des globalen Massenverlusts aus, obwohl rund vierzig Prozent der weltweiten Eisströme dazuzählen. Die Forscher vermuten, das langsamere Abschmelzen könnte zum Teil damit erklärt werden, dass Meeresgletscher einen Zyklus durchlaufen, der phasenweise unabhängig von Klimaveränderungen ist. Zwar schmelzen Meeresgletscher bei höheren Temperaturen ebenfalls dahin, sie folgen aber einer eigenen Dynamik. Zunächst rücken sie – weitgehend unempfindlich gegenüber den gerade herrschenden Klimabedingungen – meerwärts vor und können dann für gewisse Zeit in ihrer maximalen Ausdehnung verharren. Daraufhin setzt eine Phase ein, in der auch die Meeresgletscher sehr sensibel auf das Klima reagieren. Durch wiederholtes Kalben, wie es im Fachjargon heißt, brechen dann große Mengen Eis ab, sodass die Gletscher drastisch an Masse verlieren. Ab einem gewissen Punkt reduziert sich dieser Abbruch, und der Gletscher kann sein Gleichgewicht wiedererlangen. Je nachdem, in welcher Phase des Zyklus sich ein Meeresgletscher gerade befindet, verliert er demnach mehr oder weniger Eis – anders als jene Gletscher, die an Land enden und relativ synchron zur globalen Klimaerwärmung abschmelzen.
Wie empfindlich Gletscher sonst auf einen Klimawandel reagieren, zeigen die Gebiete, in denen sich eine Verlangsamung des Schmelzens feststellen ließ. Am Ostrand von Grönland wurde eine Erhöhung der Eisfläche gemessen. Und in der Antarktis zeigten sich unterschiedliche Trends: Während die äußeren Gletscher im Westen pro Jahr vertikal über zwanzig Zentimeter verloren, gewannen die Gletscher an den Rändern der östlichen Antarktis sogar leicht an Höhe. Abseits der Randgebiete der großen Eisschilde von Grönland und der Antarktis fanden die Forscher nur zwei andere Gebiete, in denen sich der Schwund verlangsamt hatte: Island und Skandinavien. Während isländische Gletscher von 2000 bis 2004 jährlich rund 1,2 Meter an Höhe verloren, wurden sie von 2015 bis 2019 nur noch 0,77 Meter pro Jahr dünner. Ähnlich sah es für die skandinavischen Eismassen aus.
Viele dieser regionalen Ausreißer lassen sich mit kurz- bis mittelfristigen Klimaschwankungen erklären. „Gletscher können die kurzfristige Variabilität von Niederschlägen und Temperaturen zwar filtern. Das heißt, ein Gletscher schmilzt auch mal in einem relativ kühlen Jahr“, erklärt Ben Marzeion. „Aber je kleinräumiger man sich das anschaut, umso ausgeprägter werden die Effekte der natürlichen Klimavariabilität sichtbar.“ Dass die aktuelle Studie solche regionalen Abweichungen vom globalen Trend überhaupt anzeigt, belegt, wie detailreich die Daten inzwischen für eine spezifische Region sind. Überraschend wäre es, wenn die Verlangsamung des Eisrückgangs sich die nächsten zwanzig Jahre fortsetzen würde, sagt Marzeion. Dafür gebe es aber keine Hinweise.
Die „Karakorum-Anomalie“ könnte den neuen Ergebnissen zufolge ebenfalls bald ihr Ende erreichen. Karakorum ist ein Gebirge in Südasien und zählt zu den am stärksten vergletscherten Gebieten außerhalb der Polarregionen. Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Eismassen dort – wie auch in den westlichen Teilen des Kunlun-Gebirges in China und dem Osten des Pamirs – seit 1970 stabil sind. Seit den 2000er-Jahren nimmt die Gletschermasse an einigen Stellen sogar leicht zu, während die umliegenden Gletscher der asiatischen Hochgebirge deutlich verlieren. Die Gründe für diese Anomalie sind noch nicht vollends verstanden, Wissenschaftler gehen davon aus, dass unter anderem niedrigere Sommertemperaturen seit 1970 und zunehmende Niederschläge in der Region zu einer Stabilisierung der Eismassen beigetragen haben. Da sich die Ausdünnung der Gletscher in den asiatischen Hochgebirgen laut der globalen Bestandsaufnahme jedoch drastisch beschleunigt, könnte es mit dem Eiszuwachs im Karakorum bald vorbei sein.
Auf Dauer bleibt kein Gletscher vom Einfluss der weltweit ansteigenden Temperaturen verschont. Der global beschleunigte Massenverlust spiegele direkt die Erderwärmung wider, lautet das Fazit der Glaziologen. So nahmen über alle Gletschergebiete hinweg betrachtet zwar die Niederschläge von 2000 bis 2019 leicht zu. Ausschlaggebend für das beschleunigte Tauen der Eisströme war aber vor allem der deutliche Temperaturanstieg in diesem Zeitraum.
Die Wissenschaftler hoffen, dass die neuen Daten über die jüngste Vergangenheit der Gletscher auch genauere Abschätzungen für ihre Zukunft erlauben. Die Analyse sei ein riesiger Schritt, „weil wir jetzt zum ersten Mal eine globale Abdeckung aller Gletscher haben mit einer guten zeitlichen Auflösung“, sagt Ben Marzeion, der versucht, Vergangenheit und Zukunft der Gletscher zu modellieren. Dabei ist er auf möglichst präzise Daten zur Entwicklung der Gletscher angewiesen: „Wenn wir überprüfen wollen, wie gut die Modelle eigentlich funktionieren, war bisher immer die geringe Dichte oder die geringe Qualität der vorhandenen Daten ein Problem.“ Die aktuelle Studie ermögliche in dieser Hinsicht einen großen Fortschritt, auch weil die Autoren die Daten offen und leicht zugänglich bereitstellen.
Im neuen, sechsten Sachstandsbericht des IPCC reiht sich die Studie neben weiteren zur Fläche und Masse von Gletschern ein, darunter auch zur Massenentwicklung der grönländischen und antarktischen Eisschilde. Zwischen 1992 und 2020 hat Grönlands Inlandeis etwa 4890 Gigatonnen verloren. In den 1990er-Jahren waren die Eismassen zwar zeitweilig in Balance, seither hat sich der Massenverlust jedoch beschleunigt. Auch in der Antarktis nahm die Eismasse von 1992 bis 2020 ab, insgesamt um rund 2670 Gigatonnen. Neue Untersuchungen scheinen dabei frühere Einschätzungen zu bestätigen, wonach von 2006 bis 2018 von Jahr zu Jahr mehr Eis schmolz. Einen großen Anteil an den Verlusten hatte das Geschehen in der Westantarktis und im ostantarktischen Wilkesland.
Auch die von Romain Hugonnet und seinen Kollegen ausgeklammerten Eisschilde scheinen also immer schneller zu schwinden. Die Beobachtung einer rapiden Abnahme der Gletschermassen weltweit passe zu den Trends, die Modellrechnungen für das 20. Jahrhundert ergeben hätten, schreiben die Autoren des aktuellen IPCC-Berichts. Man könne mit sehr großer Sicherheit sagen, dass die Gletscher sich global, bis auf wenige Ausnahmen, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgezogen haben und weiterhin an Masse verlieren.
Für das Eis am Puncak Jaya und für viele andere, vor allem kleinere Gletscher bedeutet das allerdings: Jede Hilfe käme zu spät. Selbst wenn ab sofort gar keine Treibhausgase mehr ausgestoßen werden sollten, würde die Gletscherschmelze noch über Jahrzehnte anhalten. Schätzungen gehen davon aus, dass aufgrund der bereits freigesetzten Treibhausgase mindestens 28 bis 44 Prozent der heute existierenden Eismassen tauen werden. Kleinere und steilere Gletscher passen sich schneller an die Klimaveränderungen an, größere und flachere Eisströme stellen sich erst nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten auf neue Bedingungen ein. „Die Gletscher sind im Moment noch zu groß für das jetzige Klima“, formuliert es Marzeion. In den nächsten fünfzig Jahren gehe deshalb ein Großteil der Eismasse unabhängig davon verloren, wie viel Kohlenstoffdioxid in diesem Zeitraum ausgestoßen werde. Daraus zu schließen, dass das Schicksal der Gletscher ohnehin besiegelt sei, greife aber zu kurz, sagt Marzeion: „Das zeigt eher, wie wahnsinnig langfristig die Auswirkungen sind, die unsere Entscheidungen im Moment haben.“ Wie hoch der Meeresspiegel in ein- oder zweihundert Jahren sein wird, ist also noch nicht entschieden.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 31.08.2021 15:12 Uhr
