
Anthropozän : Der Zeitpunkt, bevor es passiert sein muss
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Eine geologische Formation in Nanjing, China. Beton und Asphalt haben die Wälder überholt. Bild: dpa
In diesem Jahr überstieg das Gesamtgewicht alles Menschengemachten erstmals die globale Biomasse. Das Anthropozän wird kommen, nein, es ist schon da.
Nun droht das Jahr 2020 nicht nur in die Geschichtsbücher einzugehen, sondern auch in die der Erdgeschichte. Soeben ist in der Zeitschrift Nature eine Studie israelischer Wissenschaftler erschienen, derzufolge in just diesem Jahr die „anthropogene Masse“, also das Gesamtgewicht aller von Menschen produzierten und in Gebrauch befindlichen Dinge, das der globalen Biomasse überschritten hat – sofern man die jeweilige Trockensubstanz vergleicht und unter dem kritischen Zeitpunkt den Mittelpunkt des zwölf Jahre breiten Fehlerbalkens versteht.
Das meiste dieses Menschenwerks besteht freilich nicht aus prozessierter Biosphäre, sondern aus Beton und aufgeschüttetem Sediment. Doch allein in unseren Häusern und Infrastrukturen steckt mehr Material als in sämtlichen Bäumen und Büschen, und unser gesamtes Plastik wiegt das Doppelte aller Haus-, Nutz- und Wildtiere an Land und im Meer.
In der Frage nach dem Anthropozän, also dem Zeitalter, mit dem der Mensch ein geologischer Faktor wurde, wäre 2020 damit der „Terminus ante quem“, der Zeitpunkt, bevor es passiert sein muss. Es ist verführerisch, den eigentlichen Beginn des Anthropozäns nicht lange davor festzusetzen, etwa in die Zeit der besonders hohen Steigerungsraten der anthropogenen Masse zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Ölkrise von 1973.
Doch die Gründe, warum es dazu kommen musste, sind lange vorher gelegt worden, wohl bereits in der frühen Neuzeit. Wir Heutigen sind Verursacher, aber keine Schuldigen – was nicht bedeutet, dass wir nicht zum Versuch des Gegensteuerns verpflichtet wären.

Verantwortlich für das Ressort „Wissenschaft“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
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