Einschulung und ADHS : Immer auf die Jüngsten?
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Über Risikofaktoren für ADHS und mögliche Therapien ist noch nicht viel bekannt Bild: dpa
Die Einschulung an einen Stichtag zu binden erweist sich medizinisch als Irrweg: Opfer sind die Jüngsten, die „Hyperaktiven“, sie werden stigmatisiert und müssen Pillen schlucken. Politik als Trampelpfad in den ADHS-Sumpf.
Sie sind meistens unreif und nicht etwa krank, aber wer will das schon wissen? Sie werden meistens mit den Falschen in der Klasse verglichen, kommen oft in zu große Multikulti-Klassen, und wenn man genau hinsieht haben viele von ihnen auch noch Pech, dass ihre ehrgeizigen Eltern das alles, vor allem aber den Entwicklungsstand ihres Sprößlings, nicht einfach hinzunehmen bereit sind. Konsequenz: ADHS-Verdacht schon bald nach der Einschulung, ab zum Arzt und notfalls Ritalin jeden morgen nach dem Frühstück. Häufig heisst das aber auch: Fehldiagnose vorprogrammiert.
So sieht das düstere Szenario aus, das jetzt nach der Veröffentlichung einer bundesweiten Studie, angeführt von Forschern der Ludwig-Maximilians-Universität München, im „versorgungsatlas.de“ gezeichnet wird. Niemand muss sich über die Ergebnisse wundern. Seit Jahren ist die Häufung ebenso wie der Zusammenhang zwischen dem Einschulungsalter und der Häufigkeit von Diagnosen einer Aufmerksamkeits-Defizit-Störungen bekannt.
Aus den Vereinigten Staaten, Kanada, Island, den Niederlanden und Spanien liegen entsprechende Daten längst vor. Und spätestens, seitdem ADHS-Diagnosen von Schulkindern so häufig sind wie die Diagnose Heuschnupfen, nämlich bei etwa jedem zwanzigsten Kind - mehrheitlich Jungen -, ist jedem Fachmann im Land klar: Hier läuft in der Diagnosestellung einiges schief. Zu leichtfertig werden Kinder zu Patienten abgestempelt, und zwar zuerst innerhalb der eigenen Familie, und zu schnell verschreiben die Ärzte daraufhin Methylphenydat als phyrmakologische Ultima ratio gegen das unaufmerksame, überaktive und impulsive Verhalten ihrer kleinen „Patienten“
Für den Versorgungsatlas wurden nun zum ersten Mal, wie es heisst, „die vollständigen Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten„ der deutschen Vertragsätzte aus den Jahren 2008 bis 2011 für Kinder zwischen 4 und 14 Jahren zusammengestellt. Mehr als sieben Millionen Kinder sind so kassenübergreifend erfasst worden. Ein gewaltiger Datensatz. Das Ergebnis, statistisch betrachtet: Von den jüngeren Kindern, die im Monat vor dem Einschulungsstichtag geboren sind, erhielten im Schnitt im Laufe der nächsten Jahre 5,3 Prozent eine ADHS-Diagnose, bei den älteren Kindern, die im Monat nach dem Stichtag geboren wurden und damit jeweils knapp ein Jahr älter waren, lag der Prozentsatz bei 4,3 Prozent. Das ist, in der Sprache der Wissenschaftler, „ein Zusammenhang bedeutender Höhe“ zwischen dem Einschulungsalter und der ADHS-Diagnose. Es erklärt aber noch nicht alles.
In ihrer Studie machen die Forscher mehr als deutlich, dass über die Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder wegen ADHS-Verdacht zum Kinderarzt oder Psychiater zu schicken, von mehr Faktoren als nur dem Einschulungsstichtag abhängt. Es ist vor allem der Vergleich mit den Klassenkameraden, der diese Bereitschaft offenbar stark fördert. Wenn Eltern mit abgeschlossenen Berufsausbildung oder Hochschulabschluß merken, dass ihr Kind, noch dazu eines der Jüngsten im Klassenverband, nicht so konzentriert arbeitet und ruhig sitzen bleiben kann, wächst nach Darstellung der Studienautoren offenbar ihre Sorge, das Kind werde abgehängt. Der Faktor höheres Bildungsniveau könnte auch einen Teil der in den vergangenen Jahrzehnten allgemein gesteigerte Bereitschaft erklären, bei den eigenen Kindern medizinisch zu intervenieren und bildungstechnisch das „Optimum“ für ihre Kidner herauszuholen.