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Immer mehr Gesundheitsdaten : Ein digitaler Sommer für Deutschlands Medizin

Bild: Mauritius

Die Ja-Aber-Revolution: Wie die Institutionen und Politik plötzlich digital aufrüsten. Patienten sollen massenhaft Daten liefern. Wer aber verhindert, dass die im Datenfriedhof enden?

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          Einen „Senkrechtstart“, nicht mehr und nicht weniger, sollen die Deutschen von ihrem Gesundheitssystem erwarten dürfen. Bundesminister Karl Lauterbach spricht. Die Vision: Unsere Krankenhäuser starten durch ins digitale Zeitalter. Keiner lacht. Allenfalls nach innen. Denn alle, die diese Vision in der Eröffnungsrede Lauterbachs auf der führenden europäischen Digitalmesse DMEA in Berlin hören, kennen die Vorgeschichte. Digitalisierung, das ist noch immer eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Medizingeschichte. Estland, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Belgien, England – die Reihe der Länder, die Deutschland in der Datenmedizin abgehängt haben, ließe sich fortsetzen. Zwanzig Jahre ist es her, dass Lauterbach und andere Gesundheitsexperten die elektronische Patientenakte (ePA) vorgeschlagen haben. Heute, sagt der Minister, reibe er sich die Augen, weil die Nutzung der Patientendaten immer noch in den Anfängen steckt. Weniger als ein Prozent der gesetzlich Versicherten nutzt die zum Jahresanfang 2021 eingeführte ePA. Entlassungsbriefe, Befunde und Röntgenbilder werden immer noch fast vollständig analog verschickt und gehortet, während um Deutschland herum mit Künstlicher Intelligenz im Routinebetrieb geplant wird.

          Joachim Müller-Jung
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

          In dem im Juni 2021 vom Sachverständigenrat zur Evaluation der Entwicklung im Gesundheitswesen herausgegebenen Gutachten heißt es: „Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland könnten besser geschützt werden, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung verantwortlich und wissenschaftlich sinnvoll genutzt würden.“ Vom „systemisch lernenden Gesundheitswesen“ ist seitdem immer öfter die Rede. Ja, es regt sich ein Jahr später fast so etwas wie ein Revolutionsgeist. Im Berliner Forum der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) etwa oder auf der DMEA, in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) – fast gleichzeitig und unisono wird er nun wortreich dokumentiert, der neue Wille zum Umbruch: Raus aus der Sackgasse, Schluss mit der Ja-aber-Revolution.

          Ja zum Fortschritt, aber bloß nicht zu viele Patientendaten sammeln – diese Formel geht nicht auf, das merken inzwischen alle. Nur: Wie die Patienten schützen vor Missbrauch und vor den amerikanischen „Datenkraken“, wie der Sachverständigenrat die Big-Data-Giganten Google, Amazon, Apple, Microsoft, Palantir und Co. bezeichnete, und dennoch die ehrgeizigen Ziele der maßgeschneiderten Datenmedizin nicht aus den Augen verlieren? „Datenschutz nicht länger vorschieben und mehr Pragmatismus“, forderte DGIM-Präsident und Vorstandsvorsitzender des LMU-Klinikums in München, Markus Lerch. Deutschland, das ist medizinischer Konsens, legt die europäische Datenschutz-Grundverordnung DSGVO immer noch zu restriktiv aus. Wertvolle Patientendaten müssen nach gewissen Fristen gelöscht, die Datenspeicher stark „minimiert“ und jede Nutzung für unterschiedliche Forschungszwecke neu angemeldet werden. „Wo wird denn jemand durch die Datensammlungen geschädigt?“, fragte Lerch, wenn auf der anderen Seite der Mehrwert der Daten für die Forschung und Gesundheit der Menschen immer unbestreitbarer werde.

          „Wir nähern uns den skandinavischen Ländern an“

          Ja, der Wert von Krankheitsdaten in Registern oder nach Analysen in Biobanken steigt auf dem Weg zu einer Hochleistungsmedizin. Aber: Schon die basale Infrastruktur dafür ist noch immer mau im Land. Der durchschnittliche Digitalisierungsgrad deutscher Kliniken liegt laut „Digitalradar“ bei 33,25 – von maximal 100 möglichen Punkten. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, meinte auf dem Berliner Forum: Nicht nur die Datenmenge, „auch die Datenqualität muss stimmen“. Stattdessen seien Patientendaten bisher meistens alt und schwer zugänglich.

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