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Puzzle aus alten Zeiten

Von PIOTR HELLER

15.10.2018 · Tontafeln zeugen davon, wie die Menschen vor Jahrtausenden lebten. Doch die meisten Tafeln sind zerbrochen. Forscher haben nun ein System entwickelt, das sie Stück für Stück wieder zusammenfügt.

E s war Anfang Juli vergangenen Jahres, als sich Erlend Gehlken nach Genf aufmachte. Er wollte ein Rätsel lösen, das Archäologen seit einem halben Jahrhundert umtreibt. Kern des Problems ist das Atrahasis-Epos. Diese über 3800 Jahre alte Geschichte gilt als eines der bedeutendsten Werke der altbabylonischen Literatur, und die älteste bekannte Kopie stammt aus dem heutigen Irak und wird im British Museum in London aufbewahrt. Auf drei Tontafeln ist in enger Keilschrift beschrieben, wie die Götter einst den Menschen erschufen und wie sie irgendwann voller Zorn über das Treiben ihrer Schöpfung eine Sintflut schickten. An entscheidender Stelle ging aber ein Stück verloren. 750 Kilometer südlich von London, im Genfer Musée d'art et d'histoire befindet sich ein Fragment mit genau diesem Teil der Geschichte. Wie es dort hingekommen ist, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Seit fünfzig Jahren vermuten Archäologen, dass dieses Bruchstück genau zu den Londoner Tafeln passt. Weil Museen solche wertvollen Exponate allerdings nicht gerne verschicken, konnte es keiner beweisen.

Zumindest, bis Erlend Gehlken in Genf ankam. Im Labor des Museums legte der Wissenschaftler das Fragment der Tafel vorsichtig auf einen Drehteller. Eine Kamera fotografierte es von allen Seiten, und am Computer ließ sich daraufhin ein dreidimensionales Modell des Bruchstücks erstellen. In London tat Elektroingenieur Tim Collins das Gleiche mit den dortigen Tafeln.

Mit diesen 3D-Modellen wurde ein Computerprogramm gefüttert, das prüfen sollte, ob die Tontafelfragmente zusammengehören. Das System haben Gehlken und Collins gemeinsam mit der Informatikerin Sandra Woolley entwickelt, Collins Ehefrau. Ihr Ergebnis fiel eindeutig aus: Die in Genf und London aufbewahrten Stücke passen zusammen.

Diese virtuelle Zusammenführung ist der vorläufige Höhepunkt einer Geschichte, die vor gut dreißig Jahren mit der Suche nach einem toten Sumerer begann. Seit dieser Zeit tüftelt Gehlken an einer Maschine, die Tontafeln automatisch zusammenzusetzen vermag. Die Lösung des Rätsels um die Atrahasis-Tafeln war kein wissenschaftlicher Durchbruch. Das Epos ist wohlbekannt, inhaltliche Lücken lassen sich mit Hilfe anderer Kopien oder verwandter Texte füllen. Die drei Forscher wollten damit lediglich zeigen, was ihr System kann. Jetzt wollen sie sich bedeutenderen Fragen widmen. Wenn sie Erfolg haben, könnte das unseren Blick auf dreitausend Jahre Geschichte für immer verändern.

Antike Bürokratie: Auf dieser Tontafel aus der Stadt Uruk sind in Keilschrift Dattel- und Gerste-Rationen für Angestellte des Eanna-Tempels festgehalten. Die Mengen wurden dereinst nicht in Kilo, sondern in babylonischen Litern angegeben. Solche Dokumente helfen heute, den Alltag der Menschen von vor mehr als 3000 Jahren zu verstehen. Allerdings sind viele beschädigt und kaum lesbar. Eine solche Skizze anzufertigen dauert mitunter mehrere Tage.

Schon als Schüler begann sich Erlend Gehlken für alte Sprachen zu interessieren. Sein Lehrer für Altgriechisch erzählte ihm von den auf Kreta entdeckten Schriften Linear A und B. Er habe mehr darüber erfahren wollen, doch der Lehrer konnte seine Fragen nicht beantworten und stattdessen das Buch „Das Gedächtnis der Völker“ (1964) von Werner Ekschmitt empfohlen. „Da stand auch was über die Sumerer geschrieben, die die erste Schrift überhaupt hatten“, erzählt Gehlken heute. Das weckte sein Interesse, das ihn auch während des Physikstudiums an der Universität in Heidelberg nicht losließ, so besuchte er Vorlesungen in Assyriologie. Am Ende konnte er in beiden Fächern seinen Abschluss machen.

In den Achtzigern begann Gehlken für seine Doktorarbeit Wirtschaftstexte aus dem sogenannten Eanna-Archiv zu dokumentieren und zu übersetzen. Eanna bedeutet „Haus des Himmels“, so hieß dereinst der Haupttempel in der mesopotamischen Stadt Uruk, die am Euphrat lag. Um 3200 vor Christus entstand dort die erste Schrift (siehe „Macht des Griffels“), mit der die Menschen dann auch Vorkommnisse des täglichen Lebens auf Tontafeln festhielten.

Die Wirtschaftstexte fanden sich an allen großen antiken Stätten Mesopotamiens. Manchmal waren es schlichte Listen: Wenn Hirten etwa einmal im Jahr ihre Tiere zum Scheren von den Weiden trieben, wurde gezählt, wie viele Schafe und Ziegen jeder von ihnen hatte. „Dann wurde die Wolle gewogen und das Ergebnis neben dem Namen des Hirten und dem Datum aufgeschrieben“, erklärt Gehlken. Der Eanna-Tempel führte auch Listen von Dattel- und Getreiderationen für Angestellte; außerdem Opferlisten, Schuldscheine, Verzeichnisse mit Produktionsmengen von Brauereien und Rechtsurkunden, die Urteile von Prozessen enthielten. „Die Bürokratie war damals nicht anders als heute“, fasst es Gehlken zusammen.

Im Gegensatz zu den zunächst viel mehr beachteten literarischen Werken bieten diese unscheinbaren Listen und Rechtsdokumente einen Einblick in das tägliche Leben der Menschen. Sie können verraten, wie die Wirtschaft funktionierte, und ermöglichen es, einzelne Familien über Generationen hinweg zu verfolgen. Der für Tontafeln zuständige Kurator des British Museum, John Taylor, drückt es so aus: „Die Tafeln beinhalten im Grunde die ersten zwei Drittel der niedergeschriebenen menschlichen Geschichte, und für einen großen Teil dieses Zeitraums wissen wir einfach nicht, wie die Dinge funktionierten.“

Die Wissenslücke lässt sich bisher nicht schließen, denn die Tafeln lassen sich nicht hervorholen und gleich lesen. Die meisten sind zerbrochen, Gehlken beschreibt das Eanna-Archiv in einem seiner Bücher gar als Trümmerhaufen. Die Bruchstücke lassen sich auch nicht ohne weiteres zusammensetzen, weil bei den Listen eben oft der Kontext fehlt, der bei literarischen Texten wiederum helfen kann. Hinzu kommt, dass die Tafeln heute über die ganze Welt verstreut sind. Infolge der Praxis einer archäologischen Fundteilung blieb eine Hälfte oft am Fundort, also im heutigen Irak oder Syrien – Teile des Eanna-Archivs befinden sich etwa in Bagdad -, während die andere Hälfte an das Land ging, das die Ausgrabungen finanziert hatte.

Die antiken Wirtschaftstexte entsprechen einem Schatz, den Gehlken bergen möchte. Und natürlich genügt es nicht, die beschriebenen Seiten der Tontafeln zu fotografieren und damit zu arbeiten. Im Gegensatz zu Zeitungsseiten handelt es sich um dreidimensionale Dokumente: Die Schrift ist in das Material eingearbeitet. „Auf Fotos der Tafeln kann man bei Bruchstellen oft nicht zwischen zufälligen Rissen und Schriftzeichen unterscheiden“, erklärt Gehlken, warum sich Bruchstücke anhand von Bildern nur schwer entziffern lassen. Wenn man das Fragment jedoch in der Hand halte, es kippen und drehen könne, sei dieser Unterschied leicht zu erkennen.

Um das dreidimensionale Modell eines antiken Siegels herzustellen, nutzt Erlend Gehlken einen Drehteller, der für Juweliere gedacht ist. Foto Piotr Heller

Für seine Arbeit am Eanna-Archiv musste Gehlken unter 600 Bruchstücken zunächst jene finden, die zueinanderpassen, und sie wie ein Puzzle zusammenfügen. Danach dokumentierte er die Tafeln in aufwendigen Skizzen: Erst wurden sie fotografiert und die Negative in ein Vergrößerungsgerät gelegt, wie man es in Dunkelkammern benutzt. Die Bilder wurden so auf Papier projiziert, damit Gehlken die Umrisse und wichtigsten Elemente von Hand abmalen konnte. Danach legte er eine Fotokopie der Tontafel über diese Umrisse und übertrug die Schriftzeichen. Die Bruchstellen skizzierte er ebenfalls genau und schraffierte sie. „Das hat pro Kopie bis zu drei Tage gedauert“, sagt Gehlken.

Eines Tages wurde seine Arbeit jäh unterbrochen. „Es kam eine Anfrage aus Berlin, ob wir noch das Skelett eines Sumerers hätten“, erzählt Gehlken. Sein Doktorvater sei daraufhin in den Keller des Instituts in Heidelberg hinuntergestiegen. Dort wurde der Sumerer entdeckt, wenn auch längst zu Staub zerfallen. Es fanden sich aber außerdem drei große Blechkisten. „Darin lagen Tontafeln, die zu meinem Archiv gehörten“, sagt Gehlken. Für ihn kam der Zufallsfund damals einer Katastrophe gleich, denn er musste von vorne anfangen und die neuen Bruchstücke mit den alten zusammenfügen.

Fünf Jahre puzzelte Gehlken an den Scherben herum, skizzierte und übersetzte sie. 1990 reichte er seine Doktorarbeit ein. Da hatte er längst den Entschluss gefasst, eine Maschine zu bauen, welche die mühevolle Arbeit erledigen und Fragmente automatisch zusammensetzen sollte. Er entwickelte ein Computerprogramm, hatte damit aber zunächst keinen Erfolg. Fragte sogar bei den Ingenieuren nach, die am Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche beteiligt waren und zerbrochene Steinquader zusammenfügen mussten. Doch deren Systeme waren für die Werke in Keilschrift ungeeignet. Weder in Heidelberg noch an anderen Universitäten weckte sein Vorhaben große Begeisterung. Erst nach einem Vortrag in Birmingham, erinnert sich Gehlken, fand er in dem Ehepaar Collins und Woolley interessierte Mitstreiter. Die beiden sind Experten für virtuelle dreidimensionale Umgebungen. Sandra Woolley hat als Informatikerin bereits an Programmen gearbeitet, mit denen man virtuelle Modelle von Tontafeln bearbeiten kann. Mit ihnen entwickelte Gehlken die Puzzlemaschine.

Im archäologischen Archiv der Universität Frankfurt, für die Gehlken seit 2009 als Privatdozent arbeitet, führt er sein System vor. Eine Kamera mit Stativ gehört dazu, vor der Linse ist ein Drehteller aufgebaut, der aus einem Juweliergeschäft stammt und eigentlich dafür gedacht ist, Schmuck im Schaufenster zu präsentieren. Darauf liegt nun ein Blatt Papier mit schwarzweißem Muster, um das System zu kalibrieren und die Größe der Objekte zu ermitteln, die man darauf legt. Das antike Siegel zum Beispiel, das Gehlken jetzt sorgfältig plaziert. Dann drückt er auf seinem Laptop auf Start. Die Kamera schießt ein Foto, daraufhin dreht sich der Teller um zehn Grad, ein weiteres Foto. Das geht immer so weiter, bis eine Kreisumdrehung vollendet ist und auf dem Bildschirm 36 Bilder erscheinen. Aus den Fotos kann das System eine Art Punktwolke berechnen, die den Umrissen des Siegels entspricht. Im nächsten Schritt wird ein Gitternetz erstellt und schließlich ein 3D-Modell mit Textur. Die benötigte Hardware kostet keine 100 Euro, vom Laptop einmal abgesehen.

Herzstück des Systems ist jedoch ein Algorithmus, der einzelne Teile zusammenfügen kann. Immer paarweise wird untersucht, ob sie an einer der Bruchkanten passen. Dafür werden die Fragmente virtuell gegeneinander verschoben, die Winkel verändert. Tendiert der Abstand zwischen den Kanten einmal gegen null, scheint die Lösung gefunden zu sein. In diesem Fall spricht Gehlken von einem Join: „So ein Join ist wie ein Fingerabdruck, etwas einmaliges. Ja oder nein, ein Vielleicht gibt es nicht.“

Von der Punktewolke zum Modell: Die Digitalisierung der Tafeln gelingt meist schneller, als sie zu zeichnen.

Innerhalb von ein paar Minuten kann das System entscheiden, ob zwei Fragmente von einer Tafel stammen. Wenn es den Wissenschaftlern gelingt, die zugrundeliegenden Berechnungen zu verbessern, lässt sich dieser Prozess beschleunigen. Auch sollen einmal mehr Informationen berücksichtigt werden, etwa zur Sprache, in der sie verfasst sind, oder zur vermuteten Größe der Tafeln, von der sie stammen. Dann müssten nicht alle Bruchstücke Paar für Paar überprüft werden, sondern das System könnte nach plausiblen Verbindungen suchen.

In einem Drahtgittermodell wird die Form des Bruchstückes als 3D-Modell angenähert.

Es wäre durchaus denkbar, das Programm mit einem ganzen Archiv zu füttern – und einfach puzzeln zu lassen. Innerhalb von wenigen Wochen könnte diese Maschine eine Arbeit erledigen, für die bislang mehrere Jahre nötig waren. Weil die Tontafeln nur virtuell zusammengesetzt werden, wären weite Distanzen zwischen den Museen und Archiven, in denen die einzelnen Stücke lagern, kein Problem mehr. Damit hätte die Erfindung das Potential, jahrtausendealten Schriftstücken ihre Geheimnisse zu entlocken.

Das digitalisierte Tafel-Bruchstück in einer für menschliche Augen anschaulichen Visualisierung

Allerdings ist das nicht der erste Versuch, Tontafeln in Form dreidimensionaler Modelle zu digitalisieren. Am British Museum erinnert sich John Taylor an etliche Unterfangen dieser Art, bei denen es zunächst gelang, einige Modelle zu erstellen. Das genüge aber nicht, die entscheidende Frage sei: „Kann man auf diese Weise auch Tausende Modelle innerhalb eines Jahres generieren?“ Es bringe der Forschung nichts, mit dem Scannen zu beginnen, wenn man für ein Archiv Jahrzehnte brauche. Dann könne es nämlich gut sein, dass man nach der Hälfte von einer neuen Technologie eingeholt werde. „Und die ganze Arbeit war umsonst“, sagt Taylor. Frühere Projekte erforderten es beispielsweise, die Bruchstücke irgendwie zu den 3D-Scannern zu befördern. Taylor weist – wie man es von einem Kurator erwarten kann – darauf hin, dass das bei Tausenden zerbrechlichen Tonfragmenten, aus denen so ein Archiv bestehen kann, zu aufwendig sei. Weil das von Gehlken und seinen Kollegen erdachte System aber mobil ist, ließe es sich zu den Archiven bringen, und niemand müsste die Fragmente transportieren. Ein klarer Vorteil.

Ein Computerprogramm fügt die Stücke zusammen, wie bei diesem Brief aus dem siebten Jahrhundert vor Christus

Deshalb könnte der neue Ansatz auch für Taylors Arbeit von Nutzen sein. Er erforscht die größte Sammlung literarischer Texte aus dem Alten Orient: die Bibliothek des Assurbanipal. Diese besteht allerdings aus über 30.000 Tontafel-Fragmenten. „In den letzten 170 Jahren ist es Wissenschaftlern erst gelungen, 5500 Tafeln wieder zusammenzusetzen“, sagt Taylor. Das sei gerade mal ein Viertel aller Tafeln aus der Bibliothek. Es wäre vorstellbar, dass das System die restlichen drei Viertel innerhalb von einigen Jahren erledigt. Und dann könnte man viel mehr verstehen als nur den Inhalt einzelner Texte. „Wir könnten zum Beispiel Fragen beantworten wie etwa: Wie viele Werke gab es insgesamt in der Bibliothek? Was waren die vorherrschenden Themen?“, erklärt Taylor. Daher glaube er, dass das System unter Archäologen schnell Anklang finden werde, wenn es sich einmal bewährt habe.

Daran setzen die Erfinder gerade alles. Auf Konferenzen haben sie den Scanner und den Algorithmus bereits präsentiert, und die Idee fand Anklang. Tim Collins scannt im British Museum derzeit Tontafelfragmente aus der Stadt Ur, die südöstlich von Uruk lag. Es seien einige hundert Exemplare, erklärt Erlend Gehlken. Diese wird man bald zurück nach Bagdad verfrachten, und die Wissenschaftler wollen die Gelegenheit nutzen, sie vorher zu digitalisieren. Umgekehrt scheinen auch die im Irak verbliebenen Tontafeln nicht mehr unerreichbar zu sein für das Forschertrio. Gehlken hat mit den Kollegen dort Kontakt aufgenommen. Er will ihnen ein Exemplar der Puzzle-Maschine schicken.

Fotos: AKK, Getty

Assyriologe Stefan Maul erklärt die Grundzüge der Keilschrift Video: F.A.Z.

Am Anfang war der Keil

Von ULF VON RAUCHHAUPT

Wie sich einst in Mesopotamien die Schriftkultur entwickelt hat.

„Enmerkars Rede war sehr groß, ihre Bedeutung sehr tief. Aber der Mund des Boten war zu schwer, und er konnte die Nachricht nicht wiedergeben. Und weil der Mund des Boten zu schwer war und er sie nicht wiedergeben konnte, klopfte Enmerkar, der Herr von Kulab, Ton zurecht und setzte die Worte darauf wie auf ein Tablett. Vor diesem Tag hatte es auf Ton gesetzte Worte nie gegeben. Doch nun, als an ebendiesem Tag die Sonne aufging, war es so! Der Herr von Kulab hatte Worte auf ein Tablett gesetzt. So war es!“

S o schildert die zwischen 2100 und 2000 v. Chr. aufgezeichnete, aber vermutlich deutlich ältere sumerische Erzählung „Enmerkar und der Herr von Aratta“ die Erfindung der Schrift. Genauer, der Keilschrift, die sich mit den ägyptischen Hieroglyphen den Titel der ersten Technik zur Fixierung von Sprache teilt. Und wie es in einer später folgenden Passage der Geschichte heißt, habe der Fürst von Aratta, nachdem er Enmerkars Tontafel erhalten und im Feuerschein begutachtet hatte, erstaunt ausgerufen: „Das sind ja Keile!“

Natürlich ist das eine Sage. Aratta war ein Stadtstaat irgendwo im Südwesten des heutigen Irans, von dem niemand weiß, ob es ihn je gegeben hat. Enmerkar hingegen war vielleicht im frühen dritten Jahrtausend v. Chr. einmal Herrscher über die Stadt Uruk gewesen, heute ein Ruinenfeld im Süden des Iraks. Doch was von diesem König außer seinem Namen noch überliefert ist, das sind – ähnlich wie bei seinem Enkel Gilgamesh – nur Legenden. Andererseits steckt darin, wie so oft, ein Körnchen Wahrheit. Die frühesten erhaltenen Schriftstücke stammen tatsächlich aus Uruk im Lande Sumer. Tontafeln aus der Schicht „Uruk IV“ im Tempelbezirk Eanna wurden allerdings schon um 3200 v. Chr. beschrieben, also lange vor Enmerkars Herrschaft – aber darauf waren noch keine Keile. Die ProtoKeilschrift der UrukZeit bestand hauptsächlich aus Bildzeichen: Piktogramme, die erkennbar abbildeten, was sie bedeuteten, oder Ideogramme, um die weniger gegenständlichen Begriffe zu symbolisieren. Diese Zeichen wurden erst in den folgenden Jahrhunderten immer stärker stilisiert und als Kombination keilförmiger Abdrücke eines entsprechend angespitzten Griffels wiedergegeben.

Altbabylonische Keilschrifttafel mit einem Wirtschaftstext Foto: Jan-Peter Kasper/FSU

Erstaunlich an der Ursprungssage um Enmerkar und den Herrn von Aratta ist aber, dass die Schrift hier nicht als Gabe der Götter vorgestellt wird – wie etwa die alten Ägypter ihre Hieroglyphen dem ibisköpfigen Gott Thot zuschrieben –, sondern als menschliche Erfindung. Und zwar eine, welche die Verwaltungspraxis vereinfachen sollte. Tatsächlich sind neunzig Prozent aller protokeilschriftlichen Dokumente administrativer Natur. Bei den verbleibenden zehn Prozent handelt es sich um Schultexte für den Schreibernachwuchs. Es gibt aus dieser frühen Zeit weder literarische Werke noch religiöse oder historische – und auch noch keine Briefe. Es geht hauptsächlich um die Erfassung und Verteilung von Waren und Arbeitskräften sowie um deren Versorgung. Eine etwas dröge Lektüre, zumal es sich noch nicht um Texte im üblichen Sinne handelt. Es waren eher Merkhilfen, Ansammlungen von Zahlen und Stichworten, meist ohne weitere grammatische Elemente wie Präpositionen oder adverbiale Bestimmungen. Wer solche Dokumente lesen wollte, musste den genauen Kontext kennen, wobei „lesen“ vielleicht gar nicht das richtige Wort ist: Erst in der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends orientierte sich die Reihenfolge der Keilschriftzeichen überall auf der Tontafel an den Wortsequenzen der gesprochenen Sprache.

Zuvor hatte sich im ersten Viertel des dritten Jahrtausends v. Chr., also etwa in der Zeit Enmarkars, der Anteil an phonetischen Zeichen beträchtlich erhöht: Zeichen, die im Text nicht mehr den Begriff repräsentierten, den sie zunächst symbolisierten, sondern dessen Lautgestalt in der gesprochenen Sprache. So bedeutete das stilisierte Bild eines Fisches (sumerisch „Ku“) dann nicht unbedingt Fisch, sondern die Silbe „ku“ in Wörtern, die diese Silbe enthalten, dabei aber im Allgemeinen nichts mit Fischen zu tun haben. Dieser phonetische Gebrauch von Zeichen ist in den frühen Dokumenten der UrukZeit noch selten und dient dort hauptsächlich zur Wiedergabe von Eigennamen.

In den Jahrhunderten nach 3000 v. Chr. nehmen die Phonogramme aber zu, und mit ihrer Hilfe können nun auch immer feinere grammatikalische Details auf die Tontafeln gebannt werden. Die sumerische Sprache eignete sich dafür besonders gut, denn viele ihrer Wörter bestehen nur aus einer Silbe, und so ziemlich jede vorkommende Silbe ist mit mehreren Bedeutungen belegt: Es gibt also viele Homonyme, wie die Sprachforscher das nennen. Damit ließ sich für jede in der gesprochenen Sprache benötigte Silbe ein Logogramm zur schriftlichen Wiedergabe finden. Wie es dazu kam, beschreibt Christopher Woods von der University of Chicago folgendermaßen in einem Übersichtsartikel zur Frühgeschichte der mesopotamischen Schrift: „Die Verbreitung phonetischen Schreibens war keineswegs Ausdruck eines Verlangens, das Sumerische besser ausdrücken zu können. Es war vielmehr die Notwendigkeit, fremdsprachige Wörter wiederzugeben und die Schrift so anzupassen, dass man damit Akkadisch schreiben konnte.“

Vom Piktogramm zur Silbe: Diese Tafel stammt aus Uruk, ist etwa 5000 Jahre alt und mit einer Proto-Keilschrift beschrieben. Foto: akg / Bible Land Pictures

Akkadisch war eine semitische Sprache, mit dem Sumerischen ist sie nicht einmal verwandt, außerdem von anderer Struktur. Die Menschen, die sie sprachen, wohnten etwas weiter nördlich in Mesopotamien, und je enger die Handelsverflechtungen wurden, desto mehr hatten die Herren der sumerischen Stadtstaaten sich mit ihnen abzugeben, wie auch mit anderen Völkern, so dass die Geschichte von Enmerkar und dem Fürst von Aratta vielleicht eine ferne Erinnerung an diese Vorgänge bewahrt hat. Später, in der Zeit zwischen 2340 und 2200 v. Chr., unterwarfen die Akkader sogar ganz Mesopotamien und errichteten ein ausgedehntes Imperium, das früheste der Menschheitsgeschichte. Akkadisch avancierte zu einer Art Reichssprache, geschrieben aber wurde in der ursprünglich sumerischen Keilschrift, in der die beiden Sprachen eine besondere Verbindung eingingen – umso mehr, als die Sumerer nach bald dem Ende des Reiches von Akkad den Spieß noch einmal umdrehten und die sumerische dritte Dynastie von Ur für mehr als hundert Jahre über das nun überwiegend Akkadisch sprechende Mesopotamien gebot.

Die Keilschrift, mit deren Hilfe diese sowie die folgenden Großreiche der Babylonier und Assyrer, aber auch manches andere Staatswesen der Region verwaltet wurde, ist damit ein Produkt beider Kulturen. Einerseits wäre ohne das Akkadische aus den sumerischen Zeichen kaum die universell einsetzbare Schrift geworden, mit der nun die verschiedensten Sprachen des Alten Orients geschrieben werden konnten, außer dem Babylonischen und Assyrischen – beides akkadische Dialekte – auch Eblaitisch, Elamitisch, Altpersisch, Hurritisch, Hetitisch, Palaisch, Luwisch, Uratäisch und Ugaritsch. Andererseits bewahrte die Schrift ihren sumerischen Ursprung über drei Jahrtausende hinweg. Noch in späten Keilschrifttexten finden sich sogenannte Sumerogramme, ideographische Zeichen, die einst für sumerische Vokabeln standen, die aber beim Vorlesen von Keilschrifttexten in anderen Sprachen nicht mehr auf Sumerisch wiedergegeben wurden.

Diese Tafel ist 2500 Jahre jünger. Sie zeigt eine babylonische Weltkarte und einen Keilschrift-Text. Foto: Getty

Sumerogramme blieben in Gebrauch, als die Sprache Enmerkars, des Königs von Uruk, schon lange nicht mehr aktiv gesprochen wurde. Nach dem Fall der dritten Dynastie von Ur begann das Sumerische aus dem Alltag Mesopotamiens zu verschwinden. Spätestens 1700 v. Chr. gab es niemanden mehr, der es als Muttersprache erlernt hatte. Unter Gelehrten und vor allem in den Tempeln hielt es sich bis zur Zeitenwende und verschwand erst, als niemand mehr mit Keilen schreiben konnte. Der letzte bekannte Keilschrifttext wurde um das Jahr 75 n. Chr. verfasst. Bis dahin hatte diese Schriftkultur eine enorme Anzahl von Dokumenten produziert. Bei Ausgrabungen finden sich immer noch neue, zuletzt war das Team des Archäologen Peter Pfälzner von der Universität Tübingen im Sommer 2017 in den Ruinen von Bassetki im kurdisch kontrollierten Norden des Iraks auf 92 Tontafeln mit KeilschriftTexten aus der Zeit um 1250 v. Chr. gestoßen. Daraus ließ sich ablesen, dass es sich bei Bassetki um die aus anderen Schriftquellen bekannte, aber bis dahin nicht lokalisierte Königsstadt Mardaman handelt.

In den Museumsmagazinen der westlichen Welt lagern bereits geschätzte 400.000 Keilschrifttafeln. Allein im Britischen Museum sind es rund 130.000, Platz zwei gebührt dem Vorderasiatischen Museum in Berlin, aber nur von wenigen Tafeln ist der Inhalt bekannt. „In den 150 Jahren seit der Entzifferung der babylonischen Keilschrift wurden nur etwa ein Zehntel der bekannten Keilschrifttafeln gelesen“, schätzen Forscher der Johns Hopkins University, die sich um die Digitalisierung solcher Tafeln bemühen. Moderne Technik könnte die Untersuchung der restlichen neunzig Prozent wohl beschleunigen – und die philologisch etwas weniger interessanten, aber eben in rauen Mengen vorhandenen Tafeln ökonomischadministrativen Inhalts für die Sozial und Wirtschaftsgeschichte des Alten Orients erschließen. Selbst im digitalen Zeitalter ist das allerdings ein Langzeitprojekt, gibt es doch nur wenige hundert Experten auf der Welt, die akkadische Keilschrifttexte lesen können. Bei ausgefalleneren Sprachen wie dem Hurritischen, das in der späten Bronzezeit in Norden des heutigen Syrien gesprochen wurde, kann man die Textkundigen gar an einer Hand abzählen.

Tausende Artefakte zeugen noch heute von 7000 Jahren Zivilisation in Mesopotamien. Picture Aliance

Da der Träger Ton so unvergleichlich dauerhafter ist als Papyrus oder Pergament, ist die Keilschriftkultur die am besten dokumentierte Kultur vor Anbruch des Industriezeitalters. Und insofern auch säurefreies Papier da auf Dauer nicht mithalten kann – von Computerfestplatten gar nicht erst zu reden –, dürften die Altertumsforscher in ferner Zukunft dereinst einmal über mehr Originaldaten aus Sumer und Akkad verfügen als aus dem 21. Jahrhundert nach Christus.


Quelle: F.A.S.

Veröffentlicht: 15.10.2018 12:56 Uhr