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Evolutionstheorie der Literatur : Gibt es eine DNA der Literatur, Herr Moretti?

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Evolutionäre Philologie teilt nicht die Sache des begeisterten Lesers: der Literaturwissenschaftler Franco Moretti

Evolutionäre Philologie teilt nicht die Sache des begeisterten Lesers: der Literaturwissenschaftler Franco Moretti Bild: Burkhard Neie

Romane essen einander nicht auf, aber sie konkurrieren um die Zeit ihrer Leser: Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti untersucht Literatur mit den Mitteln der Evolutionstheorie. Im Gespräch erklärt er, welche äußeren Kräfte auf die Entwicklung literarischer Formen einwirken.

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          Franco Moretti ist ein Literaturwissenschaftler, der sich an messbare Tatsachen hält. Wir treffen ihn am Berliner Wissenschaftskolleg. Dort hat er eben einen Vortrag darüber gehalten, warum die Titel englischer Romane im neunzehnten Jahrhundert immer kürzer wurden.

          Für Sie steht Darwin am Anfang der Literaturwissenschaft, die Sie betreiben. Interessieren Sie sich für Tiergeschichten?

          Kein bisschen, und auch nicht dafür, ob und wie sich die Figuren in den Romanen reproduzieren, wen sie heiraten oder wer das männliche Alphatier ist. Mich interessiert, wie die Formen der Romane selber sich reproduzieren und dabei verändern. Warum überleben manche Bücher, während die meisten vergessen werden? Wie lange hält sich eine Gattung, sagen wir: der Briefroman oder die romantische Schauergeschichte? Woraus entsteht eine neue Form, etwa: die klassische Detektivgeschichte? Oder warum sind Buchtitel mit mehr als zehn Worten ausgestorben? Das sind Darwinfragen. Darwins Theorie ist eine Theorie darüber, wie Formen entstehen und wie sie sich unter äußerem Druck wandeln. Die Form ist das, was ein Autor vom anderen lernt, sich abschaut, was er gegebenenfalls abwandelt. Meine Frage ist, wie das geschieht und welche unpersönlichen Kräfte auf den Wandel literarischer Formen einwirken.

          Wenn man Romane mit Tieren oder Pflanzen vergleicht, fallen Unterschiede ins Auge. Romane essen einander nicht auf . . .

          . . . aber sie konkurrieren um die Zeit ihrer Leser. Niemand kann alles lesen. Also wird ausgewählt, also wählt auch der Autor aus, je nachdem, in welchem literarischen Ökosystem er lebt. Das ist der „Kampf ums Dasein“. Wenn es kommerzielle Leihbibliotheken gibt, achten Verleger auf deren Ankaufkriterien. Im englischen Roman der viktorianischen Zeit gibt es darum jahrzehntelang keinen Ehebruch, alle schreiben ständig um dieses unsagbare Thema herum. Oder: Wenn es Rezensionen gibt, muss der Romaninhalt nicht mehr in einem endlosen Titel zusammengefasst werden. Der Roman kann dann einfach „Emma“ heißen, was eine von Information viel stärker entlastete Werbung um Leser ist. Und so gibt es eine Evolution vieler literarischer Merkmale in Reaktion auf Umweltveränderungen.

          Und diese Evolution soll, wie im Naturreich, auf dem Zufall beruhen? Geben Sie uns ein Beispiel.

          Nehmen Sie den Urfaust und „Faust erster Teil“. Das ist von der Struktur der Handlung eine typische Sturm-und-Drang-Tragödie. Es gibt einen schwankenden Charakter, einen bösen Berater, eine Verführung. Man könnte bei Mephisto an andere Intriganten denken, die damals auf der Bühne schon eingeführt waren, etwa an Marinelli in Lessings „Emilia Galotti“. Aber Goethes Bösewicht kommt aus älteren Stoffen, Mephisto ist ein wirklicher Teufel, mit magischen Fähigkeiten, die Marinelli nicht hat. In Faust I spielt das keine große Rolle. Das meiste, was Mephisto macht, hätte sich auch ohne Magie herbeischaffen lassen können: eine Orgie, eine Verführung, Juwelen, die Ablenkung von Aufsichtspersonal und so weiter. Aber in Faust II ändert sich das. Nichts geht ohne Magie. Der Autor entscheidet sich also für eine kleine Abweichung vom Drama seiner Zeit, entwickelt den eigentlichen Clou dieser Abweichung aber erst viel später, und wir haben ein Drama ganz neuen Typs.

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