Darwin und die Kunstgeschichte : Die überleben werden - ein Blick ins Jahr 2500
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Darwin wirkte tief in die Kunstgeschichte hinein. Max Ernst etwa glaubte an die Evolution, nicht aber daran, dass sie einen Fortschritt bedeute. In seinem Collage-Zyklus „Histoire naturelle“ liefert die Evolutionstheorie den Hintergrund für eine pessimistische Deutung der Menschheitsgeschichte.
Im September 1919 stieß Max Ernst auf die April/Mai-Ausgabe der Kunstzeitschrift „Valori Plastici“ mit Reproduktionen von Zeichnungen Giorgio de Chiricos. Im Rückblick schrieb er über die Wirkung, die diese Zeichnungen auf ihn ausübten: „Ich hatte dabei das Gefühl, etwas wiederzuentdecken, was mir seit jeher vertraut war, wie wenn ein bereits gesehenes Ereignis uns einen ganzen Bereich der eigenen Traumwelt aufschließt, einer Traumwelt, die man sich mit Hilfe einer Art von Zensur zu sehen oder zu verstehen versagte.“
Damit meinte er offenbar, dass die Begegnung mit dem Magazin und de Chiricos Zeichnungen ihm die Möglichkeit eröffnete, zumindest drei Quellen zu nutzen, die er seit seiner Jugend kannte, aber bis dahin wohl als nutzlos empfunden hatte: seine Kenntnis der in der Schule und vor allem im naturkundlichen Unterricht als Lehrhilfen eingesetzten Wandtafeln, Modelle und Lehrbücher; seine Begeisterung für Jules Vernes pseudowissenschaftliche Abenteuerromane und sein zunehmendes Interesse an illustrierten populärwissenschaftlichen Büchern aller Art. Sie alle hatten einiges zur Verbreitung des Darwinismus beigetragen und inspirierten in unterschiedlichem Maße fortan auch das Werk von Max Ernst.
Collagen der Evolution
Es ist kaum anzunehmen, dass Ernst sich in „Valori Plastici“ nur de Chiricos Zeichnungen ansah. Da er sehr belesen war, dürfte er sich auch bemüht haben, dessen Manifest „Sull'arte metafisica“ zu verstehen, das im selben Heft erschienen war. Schon aus den ersten Zeilen konnte er dort gefolgert haben, dass, obwohl de Chirico Verne zwar als „Kinderbuchautor“ bezeichnete, ihn aber auch für einen der Vorläufer der arte metafisica hielt.
Es dürfte zwar schwierig sein, einen direkten Einfluss de Chiricos auf Max Ernst nachzuweisen; doch die Collagen und Gemälde, die dieser kurz nach der Begegnung mit de Chiricos Manifest zu erschaffen begann, haben vieles gemeinsam mit dem literarischen Stil, den Jules Verne zu seinem Markenzeichen machte. Er setzte „Fakten“ und Klischees aus dem Reich der Populärwissenschaft zu einer phantasievollen Collage zusammen, einer fiktiven Darstellung der Evolution der Erde und ihrer Lebensformen samt längst ausgestorbenen Geschöpfen und untergegangenen Kontinenten.
In Traumgesichte verloren
Max Ernsts wachsendes Interesse für Geologie und Paläontologie hatte möglicherweise sogar ihren Ursprung in seiner Kindheitslektüre der deutschen Übersetzung der „Voyage au centre de la terre“ mit den eindrucksvollen Illustrationen von Édouard Riou (1864). Dort fällt der jugendliche Protagonist Axel in einen „vorgeschichtlichen Traum“: „Diese ganze fossile Welt kommt mir in der Phantasie wieder zum Bewusstsein. Ich versetze mich in die Schöpfungsepochen der Bibel, welche weit über die Schaffung der Menschen hinausreichen, als die noch unvollständig entwickelte Erde für den Menschen noch nicht genügend war, ja noch ehe lebende Wesen darauf erschienen. Was für ein Traum? Wohin führt er mich? Ich war einen Augenblick in Traumgesichte verloren.“