Corona in Deutschland : „Über Monate so konstante Werte, das ist eigentümlich“
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Wohin geht die Reise mit Corona? Bild: AP
Was macht Deutschland anders, dass das Virus so lange in Schach gehalten wurde – und steigt nun die Gefahr? Der Berliner Corona-Modellierer Dirk Brockmann über die Lücken und Fallstricke mit Pandemie-Prognosen.
Als Mitglied der Corona-Arbeitsgruppe in der Nationalakademie Leopoldina hat der Physiker Dirk Brockmann vom Institut für Theoretische Biologie der Humboldt-Universität zu Berlin zur neuen Stellungnahme „Wirksame Regeln für Herbst und Winter aufstellen“ einiges beigetragen. Manche halten Experten wie ihn, die programmieren können und komplexe Modelle über Infektionsverläufe mit Algorithmen und Daten füttern, für große Propheten. Er selbst ist da sehr viel realistischer und pragmatischer.
In den neuen Empfehlungen der Leopoldina wird vorausgesetzt, dass es im Herbst und Winter zu einer verschärften Pandemie-Situation kommt und das Infektionsgeschehen womöglich schwerer in den Griff zu bekommen ist. Mit was genau müssen wir rechnen?
Das können wir nicht sagen. Niemand weiß das. Was wir sagen können, ist: Wir sind jetzt sechs Monate schon in einer Art Schwelbrand. Die Fallzahlen bleiben seit drei Monaten im Wesentlichen konstant, aber sie verschwinden auch nicht.
Wie groß ist die Gefahr, dass die Pandemie wieder aufflackert wie in Spanien oder Frankreich?
Das kann man nicht sagen. Es gibt Modelle, die unterschiedliche Szenarien zeigen. In den einen explodieren die Zahlen, in anderen passiert nicht viel, weil die Menschen die Maßnahmen beachten. Natürlich wird es anders, weil sich zum Beispiel zuletzt vor allem jüngere Leute angesteckt haben, aber es ist gerade jetzt besonders schwierig vorauszusagen, was das bedeutet. Denn in Deutschland hat sich ein Niveau mit Fallzahlen eingependelt, auf dem die oft zitierte Reproduktionszahl R gerade an dem kritischen Wert von 1 herumdümpelt. Solche kritischen Phänomene, wenn ein System gerade an einem Schwellwert hängt, haben die Eigenschaft, dass sie sich in Modellen nur schwer vorhersagen lassen.
Welche Information fehlt Ihnen für genauere Prognosen?
Wir haben es hier mit einem System zu tun, das hochgradig rückgekoppelt ist. Wie sich eine Epidemie in der Bevölkerung ausbreitet, ist mathematisch vergleichsweise einfach zu beschreiben. Aber es kommt dazu, dass sich die Informationen auch ausbreiten, die Politik reagiert darauf, die Menschen ändern ihr Verhalten aufgrund ihrer Risikowahrnehmung. Das Verhalten ändert dann den Verlauf der Pandemie, und das wiederum ändert das Verhalten. Das sind solche Kreisläufe, die intrinsisch ganz schwer vorherzusagen sind. Viele denken, dass unsere Modelle so eine Art Wettervorhersage machen. Man kann solche Kurzzeitprognosen machen, aber was darüber hinausgeht, ist nicht seriös. Und dafür sind unsere Modelle auch gar nicht unbedingt da. Wir versuchen nicht zu erklären, was in sechs Wochen passiert, sondern versuchen zu identifizieren, was passiert, wenn das oder jenes sich ändert. Das sind qualitative Aussagen, aber wissenschaftlich sehr wertvoll.
Könnte es sein, dass die stabilen Fallzahlen bleiben?
Wir wissen nicht, wieso die Fallzahlen seit Monaten so konstant sind. Dass eine Epidemie über Monate so konstante Werte hat, ist eigentümlich. Normalerweise breitet sie sich aus, oder sie schrumpft, aber auch in den Gesprächen mit internationalen Modellierern ist herausgekommen, dass es schwer zu erklären ist. Es gibt lediglich Spekulationen, vielleicht könnte es an der räumlichen Heterogenität im Land liegen, an der Saisonalität des Virus, oder an ganz anderen Dingen. Es gibt kein mechanistisches Modell, das die Konstanz erklärt.