Wissenschaftsskandal : Manipulation mit Malaria-Mitteln?
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Die Anti-Malaria-Pille Hydroxychloroquin steht unter Verdacht. Bild: Reuters
Es ist der bisher größte Skandal in der Corona-Arzneiforschung: Eine kleine Datenfirma steht wegen zweier großer Medikamenten-Studien unter Betrugsverdacht, die Weltgesundheitsorganisation schlingert und die Medizinbranche ist in Aufruhr.
An Pfingsten noch war eine amerikanische Lieferung von zwei Millionen Dosen nach Brasilien angekündigt worden, doch da hatte die hitzige wissenschaftliche Debatte um das Malaria-Mittel Hydroxychloroquin in den sozialen Netzen längst eine neue Stufe erreicht. Der Grund: Eine Studie im renommierten Medizin-Fachblatt „Lancet“, die nach Patientenzahl gerechnet bis dahin umfangreichste Beobachtungsstudie zur Behandlung mit dem Malaria-Medikament und weiterer analoger Chloroquin-haltiger Mittel mit und ohne begleitendes Antibitiotikum, hatte die Fachleute in Aufruhr versetzt. Unter den fast 15.000 mit den antiviralen Medikamenten behandelten Patienten waren Herzrhythmusstörungen auffallend oft aufgetreten, und auch die Sterblichkeit war – am deutlichsten in der zusätzlich mit Antibiotika behandelten Gruppe – bei Covid-19-Patienten in den Kliniken deutlich erhöht.
Das schlechte Abschneiden war nicht unbedingt Auslöser des neuen Streits. Zweifel an der Nützlichkeit und Sicherheit der Anti-Malaria-Pillen gibt es seit Wochen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) reagierte schnell: Wegen akuter Sicherheitsbedenken wurden die zahlreichen, von der WHO koordinierten kontrollierten „Solidarity“-Studien mit den Chloroquin-haltigen Medikamenten ausgesetzt. Gleichzeitig aber kamen rasch ernste Zweifel an der Lancet-Studie selbst auf: Wie sollte eine so gewaltige Studie mit insgesamt 96.000 Covid-19-Patienten „aus 671 Kliniken von sechs Kontinenten“ so schnell realisiert werden? Wie hätten die Ethikkommissionen, die das Einverständnis der Patienten haben mussten, in dieser Kürze grünes Licht geben und die Datenübermittlung genehmigen können? Wie vor allem sollte die Auswertung dieser riesigen Datenmengen gehen mit nur vier Studienautoren, die im Kopf des Lancet-Papers aufgeführt sind? Kurzum: Es wurde tiefer gebohrt, und es verdichtete sich schnell der Verdacht, dass man es mit dem bisher größten Skandal der Pandemie-Forschung zu tun hat.
Datenfirma entlarvt
Ins Visier kam vor allem die vom Zweitautor der Lancet-Sudie geleitete Datenfirma Surgisphere aus Chicago. Die britische Tageszeitung „The Guardian“ hakte bei dem Unternehmen nach, sprach mit dem Gründer, Sapan Desai, der die Lancet-Studie offensichtlich mit den Daten gefüttert hatte. Das Ergebnis der Recherche ist atemberaubend: Desai ist ein offenbar umstrittener Gefäßchirurg, der bis vergangenes Jahr in mindestens drei Kunstfehler-Prozesse in Illinois verwickelt war, und der vor Jahren mit einer gehypten Neugründung einer Augmented-Reality-Computerfirma aufgefallen war.
Bei Surgisphere beschäftigt er angeblich lediglich sechs Mitarbeiter ohne wissenschaftlichen Hintergrund, sein wissenschaftlicher Sprecher sei ein Science-Fiction-Autor, die Marketing-Chefin komme aus der Pornobranche. Was die wissenschaftlichen Meriten angeht und die Internet-Aktivitäten, war Surgisphere bis zum Beginn der Corona-Pandemie blank. Zwischen Oktober 2017 und März 2020 gab es auf der Twitter-Timeline der Firma keinen einzige Eintrag. Auf nichts konnte man verweisen, 107 Follower waren registriert, und auch auf LinkedIn war man kaum vernetzt.
Dann plötzlich kam Corona und der Publikationserfolg. Mit der angeblichen Sammlung von Patientendaten hat Surgisphere innerhalb kürzester Zeit nicht nur die Lancet-Studie mit einem Hauptautor der Harvard Medical School in Boston initiiert, sondern vor kurzem auch eine Studie im nicht minder renommierten „New England Journal of Medicine“ über die Verwendung von ACE-Hemmern bei Covid-19-Patienten. Als nun australische Forscher anmerkten, dass in der Lancet-Studie 73 australische Patienten gelistet waren, offiziell aber nur 67 Covid-19-Tote in der Sterbestatistik des Landes registriert waren, kam Surgishere unter Druck. Desai versuchte sich damit herauszureden, dass man versehentlich eine asiatische Klinik mit in die australische Statistik eingezogen habe – und korrigierte.
Journals und WHO reagieren
Was die Sache noch verschlimmerte: Auskunft über die Originaldaten oder wenigstens die Namen der Kliniken wollte weder Surgisphere noch die Medizin-Zeitschrift geben. Dabei hatte sie sich wie alle renommierten Journals anfangs der Pandemie verpflichtet, alle Daten und Ergebnisse offenzulegen und transparent über Covid-19-Forschungen zu berichten. Die beiden betroffenen Fachzeitschriften gerieten deshalb immer stärker unter Druck, und als nun die Hintergründe der dubiosen Datenfirma aus Chicago ans Licht kamen, reagierten sie: Beide Redaktionen verschickten eine Notiz, dass die betreffenden Studien-Publikationen überprüft würden.
Und auch die Reaktion der WHO ließ nicht lange auf sich warten. Forscher und Mediziner drängten, nun erst Recht möglichst umfassend die Sicherheit und Wirksamkeit der Malaria-Mittel in guten, kontrollierten Studien zu überprüfen. Gestern Abend gab die WHO in Genf unabhängig von dem Veröffentlichungsskandal die Fortsetzung der Solidarity-Untersuchungen mit den Malaria-Mitteln bekannt.