Die Kälte ist nicht das Problem. Jetzt, im Januar, ist Hochsommer auf der Südhalbkugel. Es sind wenige Grad unter Null, und der Ozean ist nah. Eigentlich befindet sich Neumayer III sogar mitten auf dem Meer. Denn Schelfeisflächen sind auf dem Ozean schwimmende Gletscherzungen. Auf ihnen fehlt nicht nur jede Vegetation. Es gibt keinen Sand, keine Steine. Auf Hunderten von Kilometern besteht diese Welt nur aus Wasser in allen Aggregatszuständen.

Im Land der Pinguine
Von ULF VON RAUCHHAUPT17.04.2015. Polarforschung mag komfortabler geworden sein, eine Knochenarbeit ist sie noch immer. Ein Blick auf den Arbeitsalltag an der deutschen Antarktis-Station „Neumayer III“.
N ur ein paar Meter aus der Tür, und man sieht nichts mehr. Nicht, weil es dunkel wäre, im Gegenteil, hell ist es, überall. Es gibt keinen Horizont, keinen Unterschied zwischen Himmel und Erde. Nur ein schwarzes Kabel, an Stangen aufgehängt, das nach wenigen Metern im Weiß umherwirbelnder Eiskristalle verschwindet.
Auf einmal liegt man am Boden. Beim Aufstehen blickt man sich um und bekommt einen Schreck. Der gewaltige Rumpf der Forschungsstation „Neumayer III“, die man erst Minuten zuvor verlassen hatte, ist nicht mehr zu sehen, die eigene Fußspur bereits mit Schnee zugeweht. Ohne das Kabel würde man wahrscheinlich am Ziel vorbeilaufen und in die Weiten des Ekström-Schelfeises, in den sicheren Tod.
























































Vor allem aus Eis. Acht Kilometer von der Neumayer-Station entfernt sitzt das Schelfeis auf einer Untiefe auf. Dahinter bildet seine Abbruchkante eine Bucht, benannt nach einem Schiff, der USS Atka, das die Gegend Mitte der 1950er Jahre erkundete. Im Süden ist die Atka-Bucht die meiste Zeit zugefroren. Aber im Norden können im Sommer Schiffe anlegen – ideal für die Versorgung einer Forschungsstation. Die vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Meeres- und Polarforschung betriebene Station Neumayer III ist eine von knapp 30 permanent besetzten menschlichen Außenposten auf dem gefrorenen Kontinent. Und das ist die größte Gefahr, auch in der heute vollständig kartierten Antarktis: Zu schnell ist man zu weit von aller Hilfe entfernt.
Die Luftchemikerinnen

Daher das schwarze Kabel. Es führt uns sicher anderthalb Kilometer weit nach Süden zum Spurenobservatorium. Das „Spuso“, wie es hier genannt wird, ist ein mit Pumpen und Analysegeräten vollgestopfter Container, in dem die Antarktisluft chemisch beprobt wird. Die ist extrem sauber. Weit entfernt von industriellen wie den meisten natürlichen Emissionen lassen sich hier interkontinentale Transportprozesse und langfristige Änderungen in der Zusammensetzung der Erdatmosphäre studieren.
Kerstin Schmidt hat die Anlage in den vergangenen zwölf Monaten betreut. Jetzt arbeitet sie ihre Nachfolgerin Bettina Nekat ein, die dann ab Februar alleinige Herrin des Spuso sein wird, bis im Dezember ihre Ablösung eintrifft. So lange wird sie jeden Tag hierherkommen, um Ansaugrohre und Geräte zu kontrollieren sowie die kleinen Filter zu tauschen. Sie fangen Ionen aus der Luft: Sulfat, Nitrat, Chlorid und andere mehr. Die Chemikerin analysiert ihre Beute nicht selbst, sondern verpackt die Filter für den Transport, unter anderem nach Heidelberg, wo die Proben am Institut für Umweltphysik ausgewertet werden. Das Spuso ist kein Labor, sondern ein Observatorium.
Mühe macht es trotzdem. Vor allem montags, wenn neben den kleinen Filtern auch die großen für die Aerosole und die Radionuklide ausgewechselt werden müssen. Letztere entstehen zum Beispiel durch Wechselwirkung der Luft mit kosmischer Strahlung und kommen nur in winzigen Mengen vor. Daher gilt beim Tauschen und Verpacken dieser Filter höchste Reinlichkeitsstufe. Bevor Bettina Nekat die massiven Filterhalter aus den Hochleistungspumpen schraubt und die schallplattengroßen Zellulosescheiben herausnimmt, reibt sie alle Arbeitsflächen mit dem Lösungsmittel Isopropanol ab. An „großen Montagen“ wie heute muss auch die Natronlauge in einem mit Antarktisluft durchspülten Glasrohr erneuert werden. Die alte Lauge wird fein säuberlich in ihr Fläschchen gefüllt, ebenfalls für den Transport nach Heidelberg, wo das darin aufgefangene Kohlendioxid bestimmt wird, insbesondere der Anteil des radioaktiven Kohlenstoffisotops C-14. Auch dieses entsteht durch kosmische Strahlung, aber große Mengen wurden in den 1950er und 1960er Jahren bei Kernwaffentests gebildet und werden nun langsam von den Ozeanen aufgenommen. Doch die C-14-Anteile im atmosphärischen CO2 sinken noch aus anderem Grund. In der Luft der Nordhalbkugel ist C-14 seit 2002 seltener geworden als über der Antarktis, wie man nicht zuletzt mittels jenes Glasrohrs im Spuso auf Neumayer III herausgefunden hat. Schuld ist die auf der Nordhemisphäre exzessivere Emission von CO2 aus fossilen Brennstoffen, in denen das C-14 längst zerfallen ist.
Für diese und andere Erkenntnisse waren jahrzehntelange Beobachtungen nötig. Jahrzehnte, in denen Bettina Nekats und Kerstin Schmidts Vorgänger jeden Tag und bei jedem Wetter zum Spuso stapften, auch im tiefsten Polarwinter, wenn die Temperaturen auf dem Schelfeis weit unter -40°C fallen. Nur bei schweren Stürmen müssen die Filter und Flaschen warten. „Dann ist es zu gefährlich“, sagt Kerstin Schmidt.
Die Geophysiker

Andreas Leonhardt und Annemarie Sticher haben alle zwei bis drei Tage einen Pflichttermin vor der Tür. Dafür müssen die beiden jungen Wissenschaftler, die im kommenden Winter für die geophysikalischen Beobachtungen auf Neumayer III verantwortlich sein werden, etwas weiter laufen – ebenfalls bei fast jedem Wetter und am Kabel entlang, wenn die Sicht so schlecht ist wie heute. Da ist das Geomagnetische Observatorium, kurz „Magobs“, von außen nur an zwei im Schnee steckenden Schaufeln zu erkennen, die nun zum Einsatz kommen. Die Einstiegsluke hinunter zu den Instrumenten für die routinemäßige Vermessung des Erdmagnetfeldes ist mit hartem antarktischen Schnee zugeweht. Nur wenige Schaufeln voll, und man schwitzt, dass man sich den Polaroverall vom Leib reißen möchte.
Spuso und Magobs sind so abgelegen, damit weder die Station noch die dort umherfahrenden Motorschlitten oder Pistenbullys die Messungen stören. Als Neumayer III im Jahr 2009 fertig wurde, befanden sich die Magnetsensoren lediglich in einem Graben im Schnee, auf den man ein balkenverstärktes Holzdach gelegt hatte. Das schneite zu. Heute liegt das Magobs in einer Kaverne 15 Meter unter der Oberfläche.
Unten angelangt, muss Leonhardt den Besucher beruhigen. Nein, das Dach werde nicht einstürzen, auch wenn schon fast alle Balken gebrochen sind, der verdichtete Schnee sei stabil genug. Wir können unbesorgt mit der Vermessung der geomagnetischen Feldlinien beginnen. Dafür stehen Theodoliten bereit, auf denen richtungsempfindliche Magnetometer befestigt sind. Die Bedienung ist fummelige Handarbeit bei -13°C. Ergebnis: Die Feldlinien kommen unter einem Inklinations-Winkel aus der Erde, der etwas flacher ist als bei der Messung Tage zuvor.
Das Erdmagnetfeld verändert sich stetig, durch Einfluss von Feldern und Teilchen im Weltraum, aber auch durch Veränderungen der Wirbel im Erdkern, die es überhaupt erst erzeugen. „Was unsere Messungen besonders interessant macht, ist unsere Nähe zur sogenannten Südatlantischen Anomalie“, erklärt Leonhardt. Das ist eine Schwächezone des Erdfelds, deren langfristige Veränderung ihre Ursachen im Erdkern hat. Die Messwerte sind Puzzlesteine, mit denen man die Prozesse im Erdinneren besser zu verstehen hofft. Das Interesse daran ist insofern nicht rein akademisch, als das Erdmagnetfeld uns und unsere Infrastruktur vor geladenen Teilchen von der Sonne schützt. Nun gibt es einen Trend, in den auch unsere heutige Messung passt: „In den 30 Jahren, in denen hier gemessen wird, hat die Inklination immer weiter abgenommen“, erklärt Johannes Lohse, einer der beiden Geophysiker des scheidenden Überwinterer-Teams. Das liegt daran, dass die totale Intensität des Felds abnimmt. „Wenn man das extrapoliert, wäre das Feld in 400 Jahren weg.“ Aber dieser Schluss sei unzulässig, denn die Messreihe sei dazu viel zu kurz. „Die Daten stellen lediglich eine Momentaufnahme der aktuellen Säkularvariation dar.“
Die Neumayer-Geophysiker sind aber nicht nur fürs Magobs zuständig, sondern auch für eine Reihe von Seismometern. Sie betreuen Geräte an vier Standorten, die ihre Daten in das weltweite Erdbeben-Überwachungsnetz einspeisen. In der Antarktis gibt es vergleichsweise wenig solcher Stationen. Und die auf Neumayer sind besonders wichtig, weil sie nahe an der tektonisch aktiven Region in der Gegend der South-Sandwich-Inseln im Südatlantik liegen. Dort lassen aneinander reibende Erdkrustenplatten es besonders beben, und anhand der Wellen kann man die Krustenstruktur und die Geschichte der Kontinentaldrift in dieser Weltgegend studieren. Doch diese Daten zu sammeln ist unter antarktischen Bedingungen mühsam. „Wir wollten vor Ende der Saison eigentlich noch eine Traverse zu den Seismometern auf dem Watzmann unternehmen“, sagt Jölund Asseng, der als stellvertretender Leiter des geophysikalischen Observatoriums den ganzen Sommer in der Neumayer-Station verbringt. „Aber das Wetter lässt das im Moment nicht zu.“ Mit dem Watzmann meint er nicht den Berg am Königssee, sondern ein südöstlich auf einer Anhöhe gelegenes Seismometerfeld. Eine Traverse dorthin, also eine Überlandfahrt mit 10 bis 12 km/h schnellen Pistenbullys, dauert einen vollen Tag hin und einen vollen Tag zurück.
Stattdessen fährt Asseng anderntags mit dem Motorschlitten zehn Kilometer nach Süden, um zwei Seismometer abzubauen, die für ein nun beendetes Projekt aufgestellt worden waren. Die kochtopfgroßen Geräte samt der Kiste mit dazugehöriger Elektronik stehen in abgedeckten Schneegruben, die natürlich auch erst einmal freizuschaufeln sind. Mehr Arbeit machen die Verankerungen der Solarpaneele. Gemäß Antarktisvertrag sind die Forscher verpflichtet, alles, was sie hier in die Landschaft stellen, auch wieder zu entfernen. Daher müssen auch die beiden imprägnierten Holzbalken raus. Sie liegen über anderthalb Meter tief. Als sie endlich auf dem Schlitten hinter dem Skidoo festgezurrt sind, schmerzen die Arme.
Die Meteorologinnen

Solche Schufterei scheint den Meteorologen hier erspart zu bleiben. Ihr Messfeld liegt zudem nur 200 Meter südöstlich der Station: Ein schlanker Mast mit Instrumenten in zwei und zehn Meter Höhe, für Temperatur, Luftfeuchtigkeit sowie Richtung und Stärke des Windes. Die Daten werden direkt in die Station übertragen. Ein Messwert prangt besonders groß auf jedem Bildschirm: die Windgeschwindigkeit in Knoten. Dieser Wert ist auf Neumayer so wichtig wie die Uhrzeit. Klettert die Zahl über 30, wird kaum noch ein Pilot sein Flugzeug auf der Schneepiste der Station starten oder landen. Bei 40 ist der Deckel zur Tiefgarage geschlossen. Ab 60 Knoten geht niemand mehr ohne guten Grund vor die Tür. Von 70 an gibt es keinen guten Grund mehr.
Doch an diesem Freitag sind es laue 17 Knoten, gute Bedingungen für Arbeit am Messfeld. Die Instrumente müssen hochgesetzt werden, um den steten Anstieg der Schneedecke auszugleichen – alles hier muss deshalb früher oder später hochgewuchtet werden, auch die 2300 Tonnen schwere Station selbst. Elena Stautzebach, die scheidende Meteorologin auf Neumayer III, und ihre Nachfolgerin Elke Ludewig müssen dafür tatsächlich keinen Schnee schaufeln – nur etwas auf dem Mast herumklettern und Aluminiumstangen aus dem Schnee ziehen. Das Anheben der zugehörigen Elektronikkiste übernimmt ein herbeigeholter Pistenbully, der mit einem Kran ausgestattet ist. Als er wieder weggerollt ist, schimmert es grünlich im Schnee: einige Tropfen Hydrauliköl. Auch die sind nach Antarktisvertrag zu entfernen. Also doch schaufeln.
„Aufpassen! Da bitte nicht herumlaufen“, ruft Elke Ludewig. Sie weist auf die unberührte Schneedecke unter einer laubenartigen Konstruktion aus Alustangen. „Fußspuren verändern die Schneeoberfläche und verfälschen die Strahlungsmessung.“
Die Laube ist ebenfalls Teil des meteorologischen Messfelds. Die dort angebrachten Sensoren messen nicht nur Strahlung, die vom Himmel kommt, sondern auch solche, die vom Boden reflektiert wird. Alle sind sie Teil des Baseline Surface Radiation Networks (BSRN), eines weltweiten Verbunds, mit dem etwa das „Global Brightening“ entdeckt wurde. Das ist die Umkehr des „Global Dimming“, einer bis in die 1980er Jahre wirksamen Verringerung der Sonneneinstrahlung infolge des industriell bedingten Ausstoßes aerosolbildender Abgase wie etwa Schwefeldioxid. Erst die Bemühungen um saubere Luft in den 80er Jahren und der Zusammenbruch der Sowjetunion haben die reflektierende und damit kühlende anthropogene Aerosolbildung reduziert. Daher wurde erst jetzt die Erwärmung infolge des Eintrags an Treibhausgasen spürbar – während man zuvor eher eine neue Eiszeit fürchtete, als sich über das CO2 Sorgen zu machen.
Entsprechend wichtig sind diese Strahlungsdaten für die Klimaforschung, auch im Zeitalter erdbeobachtender Satelliten, sagt Gert König-Langlo, der nicht nur der Chef des Meteorologischen Observatoriums auf Neumayer ist, sondern auch der Direktor des am AWI beheimateten Datenarchivs des BSRN. Auch in anderen Feldern haben Satelliten klassisches meteorologisches Observieren nicht verdrängt, etwa die Erfassung von Temperatur, Druck und Wind mittels Sonden an aufsteigenden Ballonen.
Im Ozonloch

Sofern das Wetter es irgend zuließ, haben Elena Stautzebach oder Kerstin Schmidt in den vergangenen zwölf Monaten jeden Vormittag einen Ballon mit einer Sonde gestartet, die während des Aufstiegs bis in 35 Kilometer Höhe Wetterwerte zur Station funkt. Jeden Mittwoch hängt an dem Ballon zusätzlich ein Gerät zur Bestimmung des Ozongehalts – und damit des Ausmaßes des Lochs, das die heute geächteten FCKW-Gase jeden Winter in die stratosphärische Ozonschicht über den Polargebieten nagen.
„Von August bis Anfang Dezember waren es sogar bis zu vier Ozonballone in der Woche“, erinnert sich Stautzebach. Denn gar nicht so selten hält sich ein Rest des Ozonlochs noch bis Dezember. „Im letzten Jahr hatten wir das Glück, dass es genau im Bereich Neumayer bestehen geblieben ist. Somit konnten wir noch bis Dezember spannende und niedrige Ozonwerte über Neumayer messen.“ Dabei sind Ozonmessungen besonders zeitraubend. An einem folgenden Mittwoch verbringt Elena Stautzebach einen geschlagenen Vormittag mit der Vorbereitung der elektrochemisch arbeitenden Sonde. Etliche Schritte sind abzuarbeiten, mit Wartezeiten dazwischen, die gleichwohl zu kurz sind, um nebenbei anderes zu erledigen. „Ich habe da für mich das Häkeln entdeckt“, sagt sie und lüftet das Rätsel, warum die halbe Neumayer-Besatzung mit farbenfrohen Häkelmützen herumläuft.
Von den drei Observatorien auf Neumayer hat die Meteorologie den straffsten Arbeitsplan. Neben den täglichen Ballonstarts und der Messfeldpflege sind alle drei Stunden Wetterbeobachtungen fällig: Grad und Art der Bewölkung, Niederschläge, Sichtverhältnisse müssen an ein weltweit tätiges System gemeldet werden. Die Daten fließen in die Computermodelle ein, die auch für die Wettervorhersagen in Deutschland von Bedeutung sind. Da es in der Antarktis nur wenige Beobachtungsstationen gibt und Neumayer zudem nahe des zirkumpolaren Tiefdruckbands liegt, eines wichtigen Glieds im globalen Wettergeschehen, kommt der Qualität der Beobachtungen hier grundsätzliche Bedeutung zu. „Wir sind nicht wegen des Flugwetters hier“, sagt Gert König-Langlo. „Oder weil wir wissen wollen, wie kalt es den Pinguinen ist.“
Auf dem Meereis


Obwohl es die hier auch gibt. Acht Kilometer nordöstlich, an der Atka-Bucht, liegt eine Kolonie mehrerer tausend Kaiserpinguine. Um diese Jahreszeit sind sie aber auch auf der zugefrorenen Bucht unterwegs. Watschelnd oder auf ihren Bäuchen rutschend, legen die Tiere viele Kilometer durch die Landschaft aus erodierten Eisbergen und anderen frostigen Formationen zurück, um zum Fischfang in Spalten zu tauchen, welche die Gezeiten jetzt um die Eisberge herum aufreißen. Dabei haben die neugierigen Vögel regelmäßig Gelegenheit, einem Team aus Meteorologen und Geophysikern beim Meereisbohren zuzusehen.
An einem strahlend schönen Tag stemmt sich Elena Stautzebach auf einen Akkuschrauber, an dem ein meterlanger Spiralbohrer befestigt ist. Es ist einer von sechs quer über die Bucht verteilten Punkten, an denen möglichst alle drei Wochen das Meereis untersucht wird: Unter anderem interessiert sich die Forschung für die Schichtdicke des sogenannten Plättcheneises. Das besteht aus hauchdünnen, aber bis zu 20 Zentimeter großen Gebilden, zu denen Schmelzwasser von der Unterseite des Schelfeises durch die Druckentlastung beim Aufstieg auskristallisiert. Die Beobachtung der Menge an Plättcheneis, das sich unter dem Meereis sammelt, erlaubt Rückschlüsse auf die Schmelzprozesse an der ansonsten kaum zugänglichen Basis der Schelfeisflächen und damit auch über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Antarktis.
Das Durchbohren des über den Plättchen liegenden, meterdicken massiven Meereises ist dabei gar nicht das Mühsamste. Das ist einmal mehr das Buddeln, denn vor allem in der westlichen Hälfte der Bucht liegt das Eis unter einer dicken Schneeschicht. Unangenehm wird es auch, wenn die Bohrstange nach Abnahme des Akkuschraubers aus der Hand gleitet und im Loch verschwindet. Am ersten Loch wäre das heute um ein Haar passiert. Minutenlang muss Elena Stautzebach mit bloßen Armen im Eiswasser nach der Stange angeln. Nicht auszudenken, wenn so etwas im Winter passiert.
Denn die Meereisbohrungen, für die ein Team auf Motorschlitten einen ganzen Tag unterwegs ist, werden auch im Winter durchgeführt, sofern es nicht zu sehr stürmt. „Dann muss man sich eben dick genug anziehen und während der Bohrarbeiten die Motoren laufen lassen, sonst bekommt man sie nicht wieder an“, sagt der Geophysiker Johannes Lohse. Eine weitere Voraussetzung ist, dass in der Station ein anderer die meteorologische Routine übernehmen kann. In der Regel hilft die Kollegin von der Spurenchemie, die sich für ihre Arbeit nie weiter als bis zum Spuso von der Station entfernen muss und die Wetterdaten auch in den dortigen Computer eingeben kann. Sonst muss die Meereisforschung auch schon mal ausfallen. „Das Observatorium geht in jedem Fall vor“, sagt Gert König-Langlo. Das Datensammeln für die Meereiskundler ist ein Nebenjob.
Die Glaziologen

Eisforscher im Hauptamt ist dagegen Sepp Kipfstuhl. Der AWI-Wissenschaftler ist diese Saison mit seinem Doktoranden Thomas Münch in die Antarktis gereist. Sie wollen wissen, wie genau aus Schnee Eis wird. Denn wenn sich Schnee bildet, lagert er in seinen Kristallen je nach gerade herrschenden Klimabedingungen Wassermoleküle mit unterschiedlichen Sauerstoff- und Wasserstoffisotopen ein, die sehr gut die Temperatur in der Vergangenheit widerspiegeln. Und wenn der Schnee sich im Laufe der Zeit in massives Gletschereis verwandelt, werden darin Luftbläschen mit der jeweils herrschenden Atmosphärenzusammensetzung eingeschlossen. Im Laufe der Jahre und Jahrtausende zeichnen die aufeinanderliegenden Schneeschichten also ein Stück Klimageschichte auf. Kipfstuhl und Münch interessieren sich nun für die Archiveingänge der letzten Jahre und Jahrzehnte, die in den obersten, noch nicht vollständig zu Eis komprimierten Schneeschichten gespeichert sind. Der Vergleich mit meteorologischen Aufzeichnungen gibt dann Hinweise darauf, wie genau Klima- und Umweltbedingungen im antarktischen Eis archiviert werden.
Für solche Untersuchungen taugt das Schelfeis um Neumayer III nicht. Dazu muss man hinauf auf die gewaltigen Gletscher im Inneren des Kontinentes. Das AWI unterhält daher seit 2001 die Kohnen-Station. Sie ist nach einem früheren Cheflogistiker des Instituts benannt und liegt anderthalb Flugstunden weiter südlich. Das Gletschereis erhebt sich hier fast 2900 Meter über den Meeresspiegel, und der wärmende Ozean ist weit weg. Daher beträgt die Lufttemperatur selbst an diesem strahlenden Sommertag -30°C, was man aber mangels Wind kaum spürt. Die Techniker, die nach der Landung das Flugzeug mit Kipfstuhls Eisproben beladen, haben sogar ihre Anoraks ausgezogen, um nicht ins Schwitzen zu kommen.
An Kipfstuhls Arbeitsplatz allerdings sind es -37°C. Es ist ein langer Graben, der zwei Stockwerke tief in den Firn gebaggert und mit einem Holzdach abgedeckt wurde. Vom unteren Stock geht es noch tiefer hinunter, 2775 Meter. Das Loch wurde zwischen 2002 und 2006 gebohrt und damit ein Klimaarchiv erschlossen, das 150.000 Jahre zurückreicht. „Wir halten das Bohrloch offen und führen darin Messungen durch, die uns zeigen, wie das Eis sich in unterschiedlichen Tiefen bewegt, erklärt Kipfstuhl und führt den Besucher dann in sein Eislabor voller Instrumente und Utensilien, von denen man nicht erwartet hätte, dass sie bei dem klirrenden Frost hier noch funktionieren oder sich bedienen lassen. „Hier können wir unterm Mikroskop eine erste Charakterisierung der Proben vornehmen“, sagt Kipfstuhl. Die detaillierten Analysen erfolgen dann in einem Speziallabor des AWI in Bremerhaven.
Ihre aktuellen Beprobungen nehmen Kipfstuhl und Münch aber nicht hier, sondern einige hundert Meter entfernt in einem kleineren Graben vor. Aus der Ferne erkennt man davon nur die kleinen Zelte, die ein windgeschütztes Arbeiten ermöglichen sollen. Sonst könnte sich, wenn Wind aufkommt, niemand mehr einen Handschuh ausziehen, um eine Arbeit genauer auszuführen.
Auch sonst ist das Forscherleben hier noch eine Spur rauher. Kohnen wirkt gegen Neumayer III wie ein Dreimaster gegen ein Raumschiff und nicht nur hinsichtlich der Größe. Die Container des Wohnkomplexes sind nur über einen außen verlaufenden Gitterrost verbunden – auch von den Schlafquartieren zur Toilette kommt man nur auf einem Weg unter freiem Himmel. Und wer duschen will, der muss erst einmal Schnee in die Schmelze schaufeln.
Die Ärztin

Die Kohnen-Station ist allerdings nur im Sommer mit bis zu 20 Mitarbeitern besetzt. In dieser Zeit kommen öfters Flugzeuge und bringen Abwechslung und neue Gesichter. Auf Neumayer III dagegen arbeiten auch im Winter neun Personen, die März bis Oktober als Gruppe isoliert sind. Über Satellit sind sie zwar mit dem Rest der Welt verbunden, doch per Flugzeug oder Schiff kommt in diesen – zum Teil auch noch dunklen – Monaten in aller Regel niemand in die Antarktis. Das stellt besondere Anforderungen an die psychologische und soziale Belastbarkeit der Überwinterer, ist aber auch eine gute Gelegenheit zum Forschen.
Dabei wird das Team einer Reihe von Tests unterzogen, um die Reaktion des menschlichen Körpers auf die Isolation zu erkunden, auch im Hinblick auf künftige lange Raumfahrtmissionen. Da wird etwa gemessen, wie sich während der Monate im Eis der Energieumsatz verändert, die Schlafqualität, die Körperzusammensetzung, das Immunsystem und die kognitiven Funktionen. Konzipiert wurde das Programm von Forschern der Berliner Charité und der Universität München. Die Betreuung vor Ort liegt bei Petra Gößmann-Lange. Die Chirurgin ist in der kommenden Überwinterung die Stationsärztin auf Neumayer III und in dieser Eigenschaft auch die Chefin des Teams, das sonst aus drei Technikern, einem Koch sowie den Wissenschaftlern Nekat, Ludewig, Leonhardt und Sticher besteht.

„Hinter der Idee, den Arzt zum Stationsleiter zu machen, steht die Überlegung, dass der im Idealfall nichts weiter zu tun hat“, sagt Gößmann-Lange. Doch etwas Zeit frisst das medizinische Forschungsprogramm doch, etwa wenn den Probanden Blut abgenommen und analysiert wird. Immerhin weiß man bereits, dass die Antarktis seltsame Dinge mit dem menschlichen Körper anstellt. So wurde an Überwinterern eine Verkleinerung eines bestimmten Hirnareals festgestellt, was sich allerdings nach der Rückkehr in die Heimat wieder normalisiert. „Das ist offenbar eine Folge der optischen Monotonie hier“, sagt Gößmann-Lange.
Inwieweit eine Überwinterung in der Antarktis spezifisch auch kognitive Funktionen verändert, ist eine offene Frage, die man mit speziellen Computerspielen und Fragebögen erforscht. Dabei geht es dann auch um psychologische Parameter wie etwa die Selbsteinschätzung. Immerhin kann es auch bei ausgesuchten Fachleuten vorkommen, dass ihnen Isolation oder Dunkelheit in krankhaftem Ausmaß aufs Gemüt schlagen. „So etwas ist schon vorgekommen“, sagt Gößmann-Lange, deren Apothekenschrank auf Neumayer für den Notfall auch Antidepressiva bereithält. „Ein Nebeneffekt dieser Studie ist, dass man frühzeitig Hinweise bekommt, wenn bei jemandem etwas aus dem Ruder läuft.“
Der Weltfrieden

Im Moment, im antarktischen Hochsommer, ist dergleichen weniger zu befürchten. Bis Ende Januar geht die Sonne nie unter, und die Station ist voller Wissenschaftler und zusätzlichen technischen Personals. In der nun zu Ende gegangenen Saison wohnten hier 42 Personen. Nicht alle gehören zum AWI. So arbeitet im Sommer immer ein Meteorologe des Deutschen Wetterdienstes hier, der die Lizenz besitzt, offizielle Flug- und Seewetterberichte für Polarregionen zu erstellen. Und regelmäßig kommen auch Torsten Grasse und Mathias Hoffmann vom Bundesamt für Geologie und Rohstoffe (BGR) in Hannover hierher. Auf Neumayer heißen die beiden nur „der Weltfrieden“. Der Spitzname kann sich aber auch auf die eigentümlichen Installationen beziehen, welche die beiden jedes Jahr warten, reparieren und verbessern. Sie befinden sich zwei bis drei Kilometer von Neumayer III entfernt: neun Messstationen aus sternförmig angeordneten Schläuchen. Es sind Infraschallsensoren. Sie registrieren Schallwellen, die tiefer sind als alles, was ein Mensch hören kann – und die weiter durch die Luft wandern können, als jeder höherfrequente Ton normalerweise reicht: um die ganze Welt.
Es gibt etwa 60 solcher Observatorien. Neumayers „Weltfrieden“ ist eines von vier in der Antarktis. Alle arbeiten sie einer internationalen Organisation zu, der Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty Organization (CTBTO) und werden von deutscher Seite von der BGR betreut. Ihre Aufgabe es ist, das internationale Abkommen zum Verbot von Kernwaffentests zu überwachen. Eine oberirdische Nuklearexplosion erzeugt einen Knall, dessen Infraschallanteil global registriert und dessen Herkunft geortet werden kann. Dazu sind die neun Messstationen auf dem Ekström-Schelfeis in einer Art Spirale angeordnet. „Diese Form sorgt dafür, dass die Detektoren in allen Richtungen gleich empfindlich sind“, sagt Torsten Grasse. Seit dem ersten Aufbau der Anlagen 2003 wurde noch kein verdächtiger Infraschall registriert, dafür allerhand anderes, darunter der Knall, den der Meteorit verursachte, der 2013 über dem russischen Tscheljabinsk niederging.
Zum Weltfrieden liefert die Anlage damit nur einen winzig kleinen Beitrag – und auch nur in einem weltweiten Verbund mit anderen Einrichtungen. Damit ist sie charakteristisch für fast alles, was auf Neumayer III geschieht. Wettervorhersage, Seismologie, Klimaforschung – das sind heute große globale Unternehmungen, die nur funktionieren, wenn Orte wie Neumayer ihre Datenpunkte beisteuern: zuverlässig, sorgfältig und mit einem langen Atem über die Jahrzehnte hinweg. Diese Forschungsarbeit scheint unspektakulär. Oft genug ist sie mühsame, mitunter auch physisch anstrengende Routine, für die es weder Schlagzeilen noch Nobelpreise gibt. Doch ganze Wissensgebiete, und nicht die unwichtigsten, würden ohne sie nicht existieren.

Fotos: Ulf von Rauchhaupt, Gestaltung: Bernd Helfert
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 17.04.2015 10:57 Uhr
