Wissenschaftlich abgedriftet : Was treibt die Lungenärzte an?
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Eine Schadstoff-Messstation in Darmstadt Bild: dpa
Ärzte als Aktivisten, warum nicht? Aber eine Unterschriftenliste gegen die Gesundheitsvorsorge, die noch dazu das Vertrauen in die Forschung untergraben soll – das wirft Fragen nach der Wissenschaftlichkeit des Vorstoßes auf.
Eine Unterschriftenliste von Fachärzten ist generell ein Vorgehen, das außerhalb des wissenschaftlichen Prozesses steht – gleich, ob sie sich damit wie im vorliegenden Fall explizit gegen die Expertise ihrer Fachgesellschaft stellen oder nicht. Zugleich sind Lungenärzte als Mediziner nicht zwangsläufig wissenschaftlich berufen oder kompetent, die Abschätzung von Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung epidemiologisch zu bewerten.
Das Hauptargument, das vorgetragen wird – „Grenzwerte ohne wissenschaftliche Grundlage“ –, zeigt, dass die Lungenärzte die reiche (und auch jüngere) wissenschaftliche und politische Literatur entweder nicht gelesen haben oder nicht zu würdigen bereit sind. Um eine wissenschaftliche Infragestellung geht es den Ärzten offenbar gar nicht. Es geht um eine Art politisches Wiederaufnahmeverfahren eines allerdings schon vor mehr als zehn Jahren abgeschlossenen Verfahrens der Grenzwertfestsetzung. Das ist ihr gutes Recht, auch wenn gefragt werden darf: Warum erst jetzt?
Berlin hat EU-Grenzwerte mitgetragen
Grundsätzlich sind Grenzwerte zur Luftreinhaltung nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen, sondern eines politischen Prozesses. Leitend in Europa ist traditionell das Vorsorgeprinzip. Im konkreten Fall gibt es seit den neunziger Jahren mehrere EU-Entscheidungen und verbindliche Richtlinien, denen alle europäischen Länder zugestimmt und die zu zahlreichen Grenzwerten für Luftschadstoffe geführt haben. Die Wissenschaft hat lediglich das verfügbare Wissen zur Bewertung der Gesundheitsrisiken und damit zur – politischen – Festsetzung eines Vorsorgegrenzwertes bereitgestellt. Dieser Prozess läuft weiter. In der Weltgesundheitsorganisation (WHO), bei europäischen Stellen und auch von deutschen Bundesbehörden werden die von Umweltschadstoffen ausgehenden Risiken immer wieder nach wissenschaftlichen Studien überprüft.
An der wissenschaftlichen Einschätzung, dass es sich bei Stickoxiden und Feinstaub toxikologisch um gesundheitsgefährdende Substanzen handelt, hat sich keineswegs etwas geändert. Mehr noch als bei Stickoxiden liegen zu Feinstaubpartikeln tierexperimentelle Daten, Zellkulturstudien, Beobachtungsstudien im „Freiland“ und Expositionsstudien im Labor – also mit Menschen und Tieren, die unter kontrollierten Bedingungen die Schadstoffe eingeatmet haben – vor. Lückenlos sind diese methodisch und finanziell sehr aufwendigen Studien allerdings bis heute nicht, die Bewertung ist fortlaufend auch bei hierzulande weiter sinkenden Schadstoffkonzentrationen. Momentan stehen etwa besonders lungengängige ultrafeine Feinstaubpartikel im wissenschaftlichen Fokus.
Keine neuen Hinweise, dass Luftschadstoffe weniger gefährlich sein sollen
Bei Stickoxiden, die hauptsächlich (aber nicht nur) aus dem Verkehr stammen, geben weder die WHO noch die damit befassten Experten unabhängiger Institute Entwarnung. Das liegt weniger an der akuten Gefährlichkeit für gesunde Menschen (die von den Lungenärzten in Abrede gestellt wird), sondern an dem nachgewiesenermaßen erhöhten Risiko für Asthmatiker und kleine Kinder. Zehn Prozent der Kinder und fünf Prozent der Erwachsenen im Land leiden unter Asthma, Tendenz weiter steigend. Auch deshalb war ein so vergleichsweise niedriger Vorsorgegrenzwert für den Verkehr – anders als etwa für belastete Arbeitsplätze – vereinbart worden.
Es hat aber auch damit zu tun, dass Stickoxide als Leitsubstanz für die Luftverunreinigung gelten, denn Luftschadstoffe treten nie einzeln auf. Stickoxide beispielsweise sind Vorläufersubstanzen für die Bildung von Ozon und Smog. Anders als die Ärzte insinuieren, gibt es international keinerlei Tendenzen (und epidemiologische oder physiologische Gründe) in der Wissenschaft, die durch Luftschadstoffe verursachten Gesundheitsrisiken kleinzureden.
Dass ausgerechnet Ärzte, die die Gesundheit auch der Schwächsten im Blick haben sollen, diese Entwicklung in ihrem ureigenen Zuständigkeitsbereich verkennen, genügt als Ausweis für den wissenschaftlichen Stellenwert der Unterschriftenaktion.