Fleischfressende Pflanzen sind ein beliebtes und wiederkehrendes Thema unserer angstlustigen Populärkultur. An der Nevermore-Academy etwa, jenem Goth-Hogwarts aus der Streaming-Serie „Wednesday“, bestreitet die Botaniklehrerin Mrs. Thornhill ihre Unterrichtseinheiten mit besonderen Zuchtformen der Venusfliegenfalle und füttert sie mit fetten Regenwürmern. In Wahrheit schnappen sich die kultigen Sonnentaugewächse allerdings nur Fliegen, Ameisen oder vielleicht mal eine unvorsichtige Spinne.
Bei Pleurotus ostreatus hingegen stehen tatsächlich Würmer auf dem Speiseplan, wenn auch keine vom Stamm der Ringelwürmer sondern Nematoden, unter denen Caenorhabditis elegans im 20. Jahrhundert zum Lieblingstier der Zellbiologen aufstieg und zum ersten Vielzeller mit vollständig sequenziertem Genom. Mit einer Körperlänge von höchstens einem Millimeter ist C. elegans zwar labortechnisch eigentlich schon ein Mikroorganismus, aber biologisch handelt es sich eindeutig um ein Tier und ist damit tabu für Vegetarier – nicht aber für eine fleischfressende Pflanze.
Nur: Pleurotus ostreatus ist keine Pflanze. Er ist ein Pilz – und zwar einer im volkstümlichen Sinne, komplett mit Stil und Hut, keiner dieser unappetitlichen Gesellen, die auf Fußnägeln wachsen oder Ameisen in Zombies verwandeln. Tatsächlich gehört P. ostreatus sogar in die Ordnung der Champignonartigen und sieht mit seiner hellbraunen Kappenoberfläche und den schneeweißen Lamellen nicht nur wohlschmeckend aus, sondern er ist es auch. Im Deutschen heißt er offiziell Austernseitling, in Kochbüchern zuweilen auch „Kalbfleisch-Pilz“, und er lässt sich leicht kultivieren. So etwas frisst wirklich Würmer?
Tatsächlich haben sich dergleichen im Laufe der Evolution nur wenige Pilze angewöhnt. Von den insgesamt knapp 149 000 bekannten Pilzarten bessern nur 150 ihren Stoffwechsel mit Nematoden auf – und gerade einmal zehn, die einen für Laien als Pilz erkennbaren Fruchtkörper ausbilden, darunter eben der Austernseitling. In freier Wildbahn wächst er an vermodernden Bäumen. Deren Gewebe enthält aber meist nur wenig Stickstoff, weswegen die Pilze sich zusätzlich Wurmproteine besorgen.
Wie sie das machen, das hat jetzt eine Forschergruppe aus Taiwan und Japan in einer in Science Advances veröffentlichten Arbeit herausgefunden. Bekannt war, dass Austernseitlinge die praktisch überall vorkommenden Nematoden – ein Spaten Erde enthält gut eine Million dieser Tiere – offenbar durch ein hochwirksames Gift lähmen und töten, das sie in ihren fadenförmigen Hyphen bilden. Es war bislang allerdings unklar, um was für einen Stoff es sich dabei handelt. Die Autoren der genannten Studie haben nun entdeckt, dass Strukturen an den Hyphen, sogenannte Toxocysten, die unter dem Mikroskop aussehen wie kleine Dauerlutscher, eine vergleichsweise einfache Chemikalie enthalten, das 3-Octanon aus der Stoffgruppe der Ketone. Für Nematoden ist diese leichtflüchtige Verbindung ein fieses Zellgift, wie die Forscher zeigen konnten.
Für Menschen allerdings ist 3-Octanon nicht nur ungiftig – zumindest in den in den Pilzen enthaltenen Mengen –, sondern auch wohlriechend, man findet es beispielsweise in Lavendel, Rosmarin oder Nektarinen. Ob der Stoff auch am Aroma gebratener Austernpilze mitwirkt, muss wohl erst noch erforscht werden. Träfe dies zu, hätte sich das 3-Octanon gleich in doppelter Weise als Selektionsvorteil erwiesen: Nach Kulturchampignons und Shiitakepilzen stehen Austernseitlinge heute an dritter Stelle der menschlichen Weltpilzproduktion.