Ob Portulak, Schaumkraut oder Vogelknöterich: Am Straßenrand und in Mauerritzen enthalten zarte Gewächse großen Liebreiz, wenn man genauer hinschaut. Bild: Charlotte Wagner
Ab in die Botanik : Die wilde Krautschau
- -Aktualisiert am
Mit Hilfe einer App werden Pflanzenblinde zu Sehenden und lernen, selbst Mauerblümchen zu schätzen. Was vorher nur als irgendwelches Straßenbegleitgrün wahrgenommen wurde, kann nun sogar beim Namen genannt werden.
Jetzt bin ich tatsächlich den ganzen Sommer am sauerfrüchtigen Hornklee vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken. Oder war es der Hornfrüchtige Sauerklee? Letzteres ist natürlich richtig, sagt zumindest die App, der ich dieses Wissen verdanke: „Flora incognita“. Horn-Sauerklee wird die Pflanzenart auch genannt, bei uns im Hof ist sie rot überlaufen, damit sie vor zu viel Licht geschützt ist, lerne ich bei Wikipedia. Auf jeden Fall ist Oxalis corniculata in der Mauerritze am Haus eine zarte Zierde und erfreut uns jeden Tag aufs Neue.
Dass ich jetzt auf Mauerblümchen und Wildkräuter achte, liegt an einer Aktion, zu der die Senckenberg-Gesellschaft kürzlich zusammen mit der Universität Freiburg aufrief. Unter dem Hashtag #krautschau posten seither immer mehr Botanikfreaks Bilder von unscheinbaren und bisher von den meisten unbeachteten Pflanzen in meine Timeline bei Twitter. Nicht zu unterschätzender Nebeneffekt der Stadtbotanik-Aktion: Statt Hass und Häme sehe ich Charme und Schönheit.
Überall Schönheiten, wenn man hinschaut
Bei mir hat die Aktion jedenfalls voll eingeschlagen. Mir kann von nun an niemand mehr vorwerfen, dass ich an einer ausgeprägten Pflanzenblindheit leide. Ich nehme Pflanzen nicht mehr als grünen Hintergrund oder Straßenbegleitgrün wahr, sondern als wesentlichen Begleiter meines und unseres Lebens in der Stadt. Und dank der App kann ich auch wirklich jedem erzählen, dass in der Pflasterritze vor dem Haus tatsächlich ein Europäischer Portulak gedeiht.
Julia Krohmer von der Senckenberg Gesellschaft, eine der Koordinatorinnen des Projekts, geht sogar einen Schritt weiter. Mit Kreide malt die Geoökologin den Namen des fraglichen Objekts auf den Gehweg, damit die Zahl der Pflanzenblinden hoffentlich weiterhin sinkt. Kürzlich ist sie gemeinsam mit einer kleinen Exkursionsgruppe vom Merianplatz in Frankfurt bis zum Luisenplatz spaziert – und nahm jede Wildpflanze unter die Kamera: 93 verschiedene Arten konnte die Gruppe am Ende mithilfe der App bestimmen, vom zarten Kraut bis zum stabilen Gehölz.
Ohne App wäre ich botanisch blind. Im täglichen Überlebenskampf unterscheiden sich Vertreter derselben Art teilweise erheblich, Wuchsform, Blattgröße und Höhe können stark voneinander abweichen. Sie wachsen eben, wie man sie lässt, und leider werden viele Arten buchstäblich mit Füßen getreten. Es soll sogar Leute geben, wie meine Nachbarin, für die solche Gewächse am besten flambiert werden sollten. Und wer sich im Netz ein bisschen umschaut, sieht jede Menge Tipps zur Bekämpfung des sogenannten Unkrauts, die ich hier aus Pietätsgründen nicht näher ausführen möchte.
Zarte Nelken im Großstadtsumpf
Die Vielfalt sieht hingegen kaum jemand, wie beispielsweise den Abgebissenen Pippau, den Quirlblättrigen Weißwurz oder das seltene Resedablättrige Schaumkraut. Überall in Mitteleuropa vertreten sind Vogelknöterich, Breitwegerich oder das einjährige Rispengras. Ob platt getreten oder mit ungestörtem Wuchs – die Lage entscheidet über das Schicksal dieser Pflanzen.
Die Lieblingspflanze von Julia Krohmer ist übrigens das Niederliegende Mastkraut (Sagina procumbens). Lässt man es wachsen, entfalten sich kleine hübsche Blütenkelche. Wie viele Kräuter ist auch dieses Nelkengewächs ein Überlebenskünstler: Es sei einerseits zart und zerbrechlich, erzählt Krohmer, aber eben auch robust und widerborstig, ein kleiner Hauch von Zerbrechlichkeit in diesem lebensfeindlichen Moloch namens Großstadt. Ich werde jedenfalls künftig alle Mauerblümchen vor den Vernichtungsfantasien ordnungsliebender Gärtner und Hausbesitzer beschützen.