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Gentrifizierung : Hamburg pflegt sein Soziotop

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Freiraum Gängeviertel: Kunst, Kultur und günstiges Wohnen Bild: plainpicture/Jérome Gerull

Vor zehn Jahren haben Künstler das Gängeviertel in der Hansestadt vor dem Abriss bewahrt. Hat sich das Einlenken der Stadt gelohnt?

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          Der Anblick ist immer noch erstaunlich. Umgeben von gläsernen Bürotürmen, Hotels und Tiefgarageneinfahrten, steht das Gängeviertel am Rand der Hamburger Innenstadt wie das berühmte gallische Dorf. Während überall in der City denkmalgeschützte Gebäude abgerissen oder entkernt und zu Shopping-Malls mit historischer Fassade umgebaut werden, trotzt das kleine Ensemble allen Zeitenwenden.

          Es sind nur zwölf „Gängehäuser“, teilweise mehr als 200 Jahre alt, die übrig geblieben sind von den labyrinthartigen Stadtvierteln, wie sie noch teilweise bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Gegend zwischen Hafen und Innenstadt prägten: Wohn- und Geschäftshäuser der Arbeiterschicht, eng, verwinkelt und mit kleinen Innenhöfen, mal aus Fachwerk, mal mit schmucken Gründerzeitfassaden. In diesem kleinen Überbleibsel von Alt-Hamburg findet sich heute wieder eine feinkörnige Mischung aus Wohnungen, Gewerbe, Cafés, Ateliers, Galerien und Veranstaltungsorten – also jene Art Quartier, die so gefragt ist.

          Es ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, deren Beginn sich genau datieren lässt: Vor zehn Jahren, am 22. August 2009, hatten 200 Künstler, Grafiker, Architekten und Studenten unter der „Schirmherrschaft“ von Maler Daniel Richter das damals weitgehend leerstehende und abrissbedrohte Areal unter dem Motto „Komm’ in die Gänge“ besetzt, dabei aber tunlichst das Wort „Besetzung“ vermieden. Stattdessen sprachen sie von „kultureller Inbesitznahme“, hängten Bilder an die Wände und luden die Bevölkerung zur Besichtigung ein. „Wir waren uns eigentlich sicher: Das funktioniert nicht, die räumen uns sofort“, erinnert sich René Gabriel, der damals als Stadtplanungsstudent dabei war und mit einer Handvoll anderer Aktivisten Nachtwache hielt. „Aber irgendwann wurde es hell, und vor der Tür stand kein Räumkommando, sondern interessierte Leute, die Kunst gucken wollten und nach Führungen fragten.“

          In Reiseführern steht das Gängeviertel als „Insidertipp“

          So ist es im Prinzip geblieben. Räumung droht allerdings keine mehr. Längst hat sich das Gängeviertel etabliert – für die einen als Ort einer gelebten Utopie selbstbestimmten Lebens, für die anderen als großes Kulturzentrum und Partylocation. Als kürzlich das zehnjährige Jubiläum der Besetzung gefeiert wurde, kamen Tausende Hamburger und Touristen. In Reiseführern steht das Gängeviertel heute als „Insidertipp“ für Alternativkultur.

          Aus den Besetzern von einst sind Bewohner und Ateliernutzer geworden, sie haben einen Verein und eine Genossenschaft gegründet und sich vor ein paar Monaten mit der Stadt auf einen langfristigen Erbpachtvertrag geeinigt. „Das Gängeviertel hat sich in den vergangenen Jahren zu einem lebendigen sozialen und kulturellen Labor für kreatives Arbeiten und Leben entwickelt“, begründete Carsten Brosda, Hamburgs Kultursenator (SPD), bei der Vertragsunterzeichnung Ende Juni das Entgegenkommen.

          Noch gehört das Gängeviertel der Stadt, die das Areal 2003 zunächst an einen Investor verkauft hatte, der es nach einigen Jahren an einen zweiten Investor weiterverkaufte. Dieser kündigte allen Mietern, um die Häuser abreißen und das Areal neu bebauen zu lassen. Während der Finanzkrise von 2008 an konnte er seine Pläne allerdings nicht umsetzen. Stattdessen kamen die Künstler „in die Gänge“ und verhinderten den Abriss der größtenteils unter Denkmalschutz stehenden Häuser.

          Die geschickt inszenierte „künstlerische Inbesitznahme“ und das konziliante Auftreten machten die Aktion anschlussfähig an das bürgerliche Lager. Die Lokalpresse berichtete anerkennend von den „Künstlern, die für den Erhalt historischer Häuser kämpfen“. Das Gängeviertel wurde zum Symbol für den Kampf gegen Gentrifizierung, Spekulation mit Wohnraum und den Ausverkauf der Stadt.

          Friseur, veganes Café und feministischer Sexshop

          Zahlreiche ähnliche Initiativen vernetzten sich zur „Recht auf Stadt“-Bewegung. Hamburg musste reagieren und kaufte das Gängeviertel schließlich zurück. Danach begann ein langwieriger Prozess, mit zähen Verhandlungen und der Sanierung erster Häuser noch unter städtischer Regie. Mit dem nun ausgehandelten Erbpachtvertrag geht die Verantwortung an die Genossenschaft über. „Damit geht die Arbeit für uns eigentlich erst richtig los“, sagt René Gabriel, der als Besetzer der ersten Stunde und zunächst als Vereinsvorsitzender und später im Aufsichtsrat der Genossenschaft die Verhandlungen mit der Stadt während der zehn Jahre mitgeführt hat.

          Saniert ist schon das Herzstück des Viertels, die „Fabrik“, in der mal Gürtel und Schnallen produziert wurden. Sie ist heute ein soziokulturelles Zentrum. Auf fünf Stockwerken befinden sich unter anderem eine Probebühne, Ausstellungs-, Veranstaltungs- und Seminarräume. „Das ist ein offenes Haus mit niedrigschwelligen Angeboten“, erklärt René Gabriel die Idee. Dort finden vielfältige kulturelle Veranstaltungen, Seminare und Workshops statt, häufig „in Kooperation mit Schulen und sozialen Trägern“, sagt Gabriel, der gerade sein Studium abschließt und mit Bildungsprojekten sein Geld verdient. Die Kurse sind oft ebenso kostenlos wie die Konzerte und anderen Veranstaltungen, Spenden aber ausdrücklich erwünscht. Auch nebenan, in der vom Gängeviertel-Verein betriebenen „Jupi-Bar“, arbeiten die Mitglieder ehrenamtlich, und Gäste zahlen, was sie wollen.

          In den zwei anderen schon sanierten Häusern gibt es neben gewerblichen Nutzern – darunter ein Friseur, ein veganes Café und ein feministischer Sexshop – auch sechzehn öffentlich geförderte Wohnungen mit Eingangsmieten von 5,80 Euro je Quadratmeter. Wer hier wohnen will, braucht einen Wohnberechtigungsschein und muss Mitglied der Genossenschaft sein. Auch René Gabriel wohnt hier mit seiner Freundin und der gemeinsamen Tochter. Weitere 59 geförderte Wohnungen sollen in den neun noch zu sanierenden Häusern entstehen, darunter zahlreiche Atelierwohnungen für Künstler.

          Es geht um mehr als nur günstiges Wohnen

          „Dabei geht es aber nicht nur um günstiges Wohnen in der Innenstadt“, versichert Gabriel, „die Leute sollen sich einbringen, um das Gängeviertel als soziokulturelles Projekt für die Stadt am Leben zu halten.“ 400 Mitglieder hat die Genossenschaft heute, darunter viele Fördermitglieder, die die Ideen gut finden und sie finanziell unterstützen. Bei allem Idealismus dürfte die Vergabe der Wohnungen in den kommenden Jahren „noch zu Konflikten führen“, wie eine Künstlerin am Rande der Jubiläumsfeier sagt. „Ich bin froh, dass ich das nicht entscheiden muss.“ Auch inwieweit sich der Wunsch nach Freiräumen dauerhaft mit den Zwängen als verantwortlicher Vermieter vereinbaren lässt, muss sich noch beweisen.

          Grundsätzlich ist die Zukunft des Gängeviertels aber gesichert, und Hamburg hat dazugelernt, dass „nicht nur Künstler solche Orte brauchen, sondern auch die Stadt selbst“, wie René Gabriel sagt. Kultursenator Carsten Brosda hatte es nach der Einigung ähnlich formuliert: „Im Herzen der Stadt sind hier die für Kunst und Kultur so wichtigen Räume und Freiräume entstanden.“

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