Wenn der Nachbar
leise wiehert
Von BIRGIT OCHS mit Fotos von MARCUS KAUFHOLD
16.05.2019 · Wer Pferde besitzt, verbringt viel Zeit mit den Fahrten zum Stall. Schöner wäre es, die Tiere zu Hause um sich zu haben. Das ist meistens verboten – außer in ganz speziellen Siedlungen. Ein Ortsbesuch in Lonnig bei Koblenz.
D as Pony steht in der Küche und kaut stoisch eine Möhre. Die Tatsache, dass Ana Maria Järke ihm das Gemüse heute zwischen Kochinsel und Kühlschrank serviert, bringt „Wolke“ nicht aus der Fassung. Nur mit den Fliesen fremdelt das gutmütige Mini-Shetty. Vorsichtig setzt es Huf für Huf auf den hallenden Untergrund. Als Hospiz-Pony, das todkranke Menschen am Sterbebett besucht, ist Wolke den Aufenthalt in Wohnräumen gewöhnt. Dort allerdings läuft es lässig über weiches Linoleum. In der Küche seiner Besitzerin ist das Tier weniger trittsicher. Wie auch. Die Reittherapeutin Ana Maria Järke hat zwar sechs ihrer achtzehn Pferde und Ponys gleich hinterm Haus untergebracht. In den Wohnräumen der vierköpfigen Familie aber haben die Tiere nichts verloren; auch Wolke nicht, wenn an diesem Tag nicht ausnahmsweise ein Fotograf zu Gast wäre.
Wolke und Artgenossen sind nicht die einzigen Rösser in der Nachbarschaft. Kein Neubau, vor dem nicht Pferde und Ponys auf kleinen Weiden grasen, aus der Box schauen oder über den befestigten Auslauf trotten. Denn die Järkes und ihre Tiere leben nicht irgendwo auf einem Gehöft, sondern nicht weit von Koblenz inmitten eines Neubaugebiets der besonderen Art. Den dortigen Bewohnern, gleich ob sie eine 600 Quadratmeter große Villa oder ein kleines Fertighaus besitzen, ist das für die Mehrheit der Pferdefreunde Unmögliche gelungen: Sie wohnen auf ihren Grundstücken zusammen mit ihren Pferden.
Davon können die meisten der etwa 900 000 Pferdehalter mit ihren insgesamt 1,3 Millionen Pferden in Deutschland nur träumen. Wer nicht ein Gestüt sein Eigen nennt oder einen Reiterhof betreibt, muss in der Regel sein Pferd bei einem solchen in Pension geben. Das bedeutet ständiges Pendeln zwischen Stall und Zuhause. Manche Pferdebesitzer fahren bis zu dreimal am Tag hin und her, andere müssen sich Helfer suchen, die nach dem Tier sehen und es versorgen. Das kostet Zeit und Geld, verlangt ein gutes Management sowie logistischen Aufwand. Mal eben nachschauen, ob sich der Gesundheitszustand des kranken Tiers verbessert hat, oder abends vor dem Schlafengehen noch mal rasch nach dem Rechten sehen ist da nicht drin.
Für Ana Järke ist das alles kein Problem mehr, seit sie in die Siedlung zwischen den Örtchen Lonnig, Rüber und Dreckenach gezogen ist. Gerade neunzehn und Studentin, habe sie sich ihr erstes Pferd gekauft, erzählt sie. In ihrer Heimatstadt Dortmund war das. Damals musste sie das Tier genauso als „Einsteller“ unterbringen wie später die drei Pferde, die sie besaß, als sie sich vor dreizehn Jahren als Reitlehrerin und Reittherapeutin selbständig machte. Irgendwann fing sie an, ein Baugrundstück zu suchen, in der Hoffnung, einen Platz zu finden, an dem sie mit ihrem Mann, den Kindern, Hunden, Katze und der wachsenden Pferdefamilie wohnen könnte. „Fünfzig Grundstücke habe ich mir angesehen“, erzählt die heute Fünfunddreißigjährige. Nichts passte. Dann gab ihr eine Baufirma den Tipp: „Fahr mal nach Lonnig.“
D ort hatte die Familie Rombelsheim um die Jahrtausendwende begonnen, die „Wohnen-mit-Pferde“-Siedlung rund um ihr Gestüt Drachenhof zu entwickeln. Im Umfeld der Pariser Trabrennbahn war Gestütsinhaber Jens Rombelsheim aufgefallen, dass die Pfleger dort nahe bei den Stallungen wohnen. Das brachte ihn auf die Idee: „Das machen wir für Privatleute.“ Mit 25 Grundstücken im ersten Bauabschnitt fing es an. Neunzehn Jahre später ist der umtriebige Rombelsheim bei Bauabschnitt vier, einer Gesamtfläche von 200 Hektar und insgesamt 80 Parzellen angekommen. Ein nächster Abschnitt mit weiteren 25 Grundstücken ist in Planung. Die Käufer kommen aus der Region, aber auch aus allen anderen Teilen Deutschlands, erzählt der 59 Jahre alte Immobilienentwickler.
Im Schnitt kaufen sie 4000 Quadratmeter große Grundstücke. Wobei drei bis vier Anwohner sich bis zu 25 000 Quadratmeter große Flächen zugelegt haben, um sich neben Haus, Stall und Paddocks auch noch eine eigene Reithalle zu bauen. „Wir haben eine ganz unterschiedliche Klientel“, sagt Rombelsheim. Dazu zählen Bauherren mit und ohne Kinder, Einzel- und Doppelverdiener, viele Selbständige, Bewohner mit mehr oder weniger viel Geld, zum Beispiel jene Privatiers, die sich auf ihrem Fleckchen Land, in der Nachbarschaft von Gleichgesinnten, ganz ihren Pferden widmen. Die Infrastruktur ist darauf entsprechend ausgerichtet. Landwirte liefern Heu und Stroh, die Mistlagerung und der Transport zu einer Biogasanlage ist organisiert. Es gibt Restplätze, große Weiden und Ställe für Pferde, die nicht mehr aufs eigene Grundstück passen. „Bei sechs Tieren ist da nämlich Schluss“, sagt Rombelsheim. „Sonst wird es zu eng.“
Ihm ist gelungen, was anderswo nur nach zähem Ringen vorankommt, wenn nicht gar scheitert. Denn dem Zusammenleben von Mensch und Pferd setzt das Recht Grenzen. Mit Kleintieren wie Hund, Katze, Kaninchen und Wellensittich unter einem Dach zu wohnen ist kein Problem. Auch exotische Mitbewohner wie Schlange oder Leguan zu beherbergen verhindert kein Gesetz. Mit einem Tier vom Kaliber eines Pferds sieht das anders aus. Großtierhaltung im Wohngebiet ist verboten. Auch wenn der Garten ausreichend Platz bietet. Selbst wer innerorts ein altes Gehöft nebst Stall erwirbt, kann dort nicht einfach ein Pferd einquartieren. Stichworte: Geräusche, Gerüche, Tierschutz.
„Das klingt immer gut, aber einfach ist das nicht“, sagt Walter Kau aus Erfahrung. Kau ist nicht nur selbst Pferdehalter, sondern auch Geschäftsführer von Skandwood. Das Unternehmen aus Schleswig-Holstein baut Ställe, Boxen, Sattelkammern und dergleichen, hat zudem aber auch ein „Horsehouse“ im Angebot, in dem Mensch und Pferd unter einem Dach wohnen können. Auf die Idee kam Kau aus eigener Betroffenheit. Seine Familie hat im Urlaub ihre Pferde immer mit dabei, muss sie aber stets fern der Ferienunterkunft unterbringen. Kau sah Bedarf für eine gemeinsame Unterkunft von Ross und Reiter, und zeichnete Entwürfe, auf die er eine „Riesenresonanz“ erhielt. Gebaut hat er bisher jedoch nur zwei dieser Häuser. Denn „bekommen Sie dafür mal eine Baugenehmigung“, klagt er und vergleicht sein Horsehouse mit den Tiny-Houses. Wie die Minihäuser stoße das Wohnhaus mit integriertem Stall zwar auf reges Interesse, aber in der Realität scheitere der Bau regelmäßig an der ablehnenden Haltung der Behörden. Mit viel Glück könne man so etwas am Ortsrand oder im Außenbereich einer Ortschaft umsetzen.
Denn Vorhaben solcher Art stoßen oft auf Widerstand. So geht ein „Wohnen mit Pferden“-Projekt im nordrhein-westfälischen Schermbeck ins achte Jahr. Dort plant ein Projektentwickler auf einer Wiese ein Ensemble aus zwölf Einfamilien- und Doppelhäusern, auf deren Grundstücken die Eigentümer zwei Pferde halten können. Eine Reithalle und Weideflächen komplettieren das Anwesen. Die meisten Häuser sind verkauft, im Juli sollen die ersten Bewohner endlich einziehen, sagt Maklerin und Mitinitiatorin Claudia von Salm-Hoogstraeten. Allein bis die Vorplanung stand, alle Gutachten vom Bodenzustand bis zum Tierschutz eingeholt waren, und das Projekt sämtliche Gremien passiert hatte, sind fünf Jahre vergangen.
Das liegt daran, dass die Idee nicht bei allen auf Sympathie stößt. Denn die Siedlungen entstehen dort, wo eigentlich keine Wohnbebauung vorgesehen war – und manch einer fragt, welche Belastung und welchen Mehrwert ein solches Projekt für die Allgemeinheit bringt und ob nicht zugunsten der Pferdehaltung der Naturschutz leide. Skandwood-Geschäftsführer Kau sieht die Sache so: „Wer sich beklagt, dass die Leute vom Land wegziehen, muss mit Angeboten dagegenhalten.“ Angeboten, die auf die Bedürfnisse bestimmter Interessengruppen abgestimmt sind. Pferdehalter zum Beispiel. Nach Ansicht von Jens Rombelsheim jedenfalls hat das Pferde-Wohnen dazu beigetragen, dass die Gemeinden weniger stark von Abwanderung betroffen sind. „Wir halten uns hier gut“, sagt er. Andere bekämen die Anziehungskraft des zwanzig Kilometer entfernten Koblenz deutlich stärker zu spüren.
Der Pferdezüchter und Immobilienentwickler betont, dass sowohl Verbandsgemeinde als auch Kreisverwaltung die Idee der Pferde-Siedlung wohlwollend begleitet haben. Die Planungsvorgaben nennt er insgesamt großzügig. „Was neuerdings allerdings etwas problematisch ist, sind die Ausgleichsflächen, die wir schaffen müssen.“ Ein Hinderungsgrund, weiterzubauen, sei das aber nicht.
Ana Järke und ihre Familie gehören zu den jüngsten Zuzüglern. Als sie vor etwa sechs Jahren, dem Tipp der Baufirma folgend, nach Lonnig fuhr, überall die Tiere und Weiden sah, habe sie gewusst: „Hier muss ich hin.“ Seit 2016 lebt und arbeitet sie unter den anderen Pferdefreunden und ist ganz in ihrem Element. „Trotz aller Unterschiede kommen wir hier sehr gut miteinander aus“, lobt sie. Die Begeisterung für die Pferde verbinde. Mit dem Auto ist sie allerdings weiterhin ständig unterwegs, zum Einkaufen, zur Schule und zum Kindergarten. Und zu den Pferden und Ponys, die nicht direkt hinterm Haus stehen, sondern mit denen sie arbeitet – auf dem Reitplatz von Jens Rombelsheim oder außerhalb. Bis zu achtzig Kilometer fährt sie manchmal zu Kindern und Erwachsenen, die wegen ihrer schlechten körperlichen Verfassung nicht zu ihr kommen können. Dann ist auch Pony Wolke im Einsatz – auf Sand, Wiese oder Linoleum. Lässig und trittsicher.
Mehr neue Häuser unter: faz.net/haeuser
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 16.05.2019 14:43 Uhr
