Wo Wohnraum fehlt, werden Dächer aufgestockt. Doch eine Berliner Genossenschaft plant viel mehr, als nur Wohnungen auf eine alte Gewerbehalle zu setzen. Über ein Projekt, das über die Hauptstadt hinausweist.
Von Jörg Niendorf
Ein alter Gewerbebau mitten in Neukölln. Eine langgezogene Halle, Teil der früheren Kindl-Brauerei am Rollberg, sie liegt in einem der gefragtesten Viertel von Berlin. Der Verdichtungsdruck ist enorm, die Grundstücke sind teuer, die Mieten hoch. Was liegt näher als aufzustocken? Genau: nichts. Deshalb bekommt der alte Bau jetzt etwas aufs Dach, vierzehn Wohnungen, um präzise zu sein. Angesichts des Bedarfs an Wohnraum in der Millionenstadt ist das nicht einmal der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein.
Der Stadtentwicklungsplan geht bis 2030 von 194000 neuen Einheiten aus. Was das Vorhaben auch außerhalb von Berlin interessant macht, ist deshalb auch nicht die Größe. Es sind die Bedingungen, unter denen die neuen Wohnungen entstehen. Das Vorhaben hat das Zeug dazu, in vielen Bereichen ein Leuchtturmprojekt für ein neues soziales und ökologisches Bauen in der Stadt sein.
Anders als so oft kommt am Rollberg kein großer Bauträger zum Zug, kein prominenter Projektentwickler und auch keine städtische Wohnungsbaugesellschaft. Eine lokale Genossenschaft namens Transform entwickelt das begehrte Areal, und dass sie sich dort kreativ ausbreiten darf, kam so: Schon vor Jahren nutzte Simon Lee, ein junger Mathematiker, mit einer Initiative von Künstlern und Start-up-Unternehmern aus dem Nachbarkiez die alte Gewerbehalle. Aus einer vorübergehenden Bleibe sollte eine dauerhafte Lösung werden. Für die Idee gewannen sie viele Unterstützer, bis hin zur Edith Maryon-Stiftung aus der Schweiz, die sich der Förderung sozialer Wohn- und Arbeitsstätten verschrieben hat. Die Stiftung hat die Flächen gekauft und überlässt sie der Genossenschaft in Erbpacht. Das Land Berlin fördert die Aufstockung der Halle mitsamt der Einrichtung von „innovativen Wohnformen“ als Experiment.
Zwei Gebäude wird die Genossenschaft, die sich ganz hip und typografisch-verknappt auch „trnsfrm“ schreibt, bauen. Das ist zum einen das Haus auf dem Haus, das sie „Circular“ nennen, zum anderen ein ganz neues Gebäude namens „Alltag“.
Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung sind die großen Säulen der Genossenschaften, die sie davor schützen, dass ihr Eigentum Spekulationsmasse wird. Ein Nachteil daran ist allerdings, dass all dies auch schnell zur Selbstüberforderung führen kann, insbesondere dann, wenn ein kleines kooperatives Wohnprojekt selbst bauen möchte. Daher gibt es Dachgenossenschaften, die die unternehmerische Rolle und einen Teil der Regie übernehmen. Auf diese Weise funktioniere es auch bei dem Rollberg-Vorhaben, erläutert Transform-Vorstand Christian Schöningh, der dort nun mit Simon Lee gemeinsam an der Spitze steht.
Als Dachgenossenschaft, die derzeit siebzehn Mitglieder zählt, übernimmt Transform die Bauplanungen für sämtliche Initiativen und Projekte, die einziehen werden. „Wir sind ein Dienstleister“, beschreibt Schöningh die Rolle. Das Projekt, vierzehn neue Maisonettewohnungen zu bauen, ist damit eine Art Tochtergenossenschaft. „Sie sollen in Ruhe und ausschließlich ihre Idee verfolgen“, fasst Schöningh, der Architekt ist, zusammen. Solch eine professionalisierte Aufgabenteilung empfiehlt er allen sozialen und gemeinschaftlichen Bauvorhaben.
Allein 25 junge Genossenschaften haben sich in Berlin seit den neunziger Jahren gegründet. Eine davon ist schon eine solche reine Regie-Dachgenossenschaft, die für andere arbeitet und den Weg aufzeigt. In Gründung ist außerdem die „Dach Aufbau Genossenschaft“, eine Initiative von jungen Architekten und Holzbauprofis. Sie versucht unter anderem, bei etablierten Wohnungsbaugenossenschaften „anzudocken“, wie einer ihrer Gründer sagt, und dort auf den Flachdächern der zahlreichen Nachkriegswohnbauten neu zu bauen und dafür kleine Tochter-Genossenschaften zu gründen.
Die zweigeschossige ehemalige Flaschenhalle der Kindl-Brauerei, die nun erweitert wird, ist keine Schönheit und auch kein Baudenkmal. Die meisten Investoren hätten sie deshalb wohl abgerissen. Jetzt werden an dem fast sechzig Meter langen Riegel dagegen die Gerüste aufgestellt, und der derzeit noch ramponierte Zweckbau bekommt seine zweite Bestimmung. Anstelle des bisherigen Leichtbaudachs erhält er zuerst eine massive Betondecke. Auf dieser neuen Plattform werden die vierzehn Wohnungen dann nebeneinander aufgereiht.
Alle sind zweigeschossig, aber unterschiedlich groß. Ganz oben auf dem Dach, also in einer dritten neuen Ebene, sollen später einzelne Hütten stehen, die Platz bieten für Gemeinschaftsflächen oder Co-Working-Büros und -Werkstätten für die Bewohner. Werkräume für Upcycling-Projekte und Kleinbetriebe solle es in den ausgebauten unteren Etagen der Industriehalle geben, sagt Simon Lee, der zweite Transform-Vorstand.
Nichts liegt näher, als Holz zu wählen, wenn man auf Dächern weiterbauen möchte. Der Baustoff hat eine gute Ökobilanz. Die Rahmenbauweise ist effizient, viele Teile lassen sich in Hallen vorfertigen, das minimiert das Pannenrisiko und verkürzt die Bauzeit. Zudem sind die Holzkonstruktionen leicht, aus statischer Sicht sind bei Dachaufstockungen daher meist mehr Etagen möglich, als es mit anderen Baustoffen der Fall wäre. Aber was, wenn die heute oft üblichen Holztafelelemente, die bereits eine Dämmschicht besitzen, eines Tages wieder abmontiert werden? Das Recycling ist wie bei vielen Verbundmaterialien aufwendig und der ökologische Vorteil solcher Fertigbauteile schnell dahin.
Aus diesem Grunde plant die Neuköllner Genossenschaft ihren Dachaufbau ausschließlich mit massiven Brettsperrholzwänden – einer Plattenbauweise im Holzbau sozusagen, bei der die Elemente selbst die tragende Konstruktion bilden und stets „sortenrein“ sind. „Solche Teile lassen sich später als massive Module auch für ein anderes Gebäude verwenden“, sagt Helge Kunz vom schweizerischen Holzbauunternehmen Renggli. Renggli will für die Transform-Genossenschaft beide Gebäude errichten. In Hamburg entsteht unter der Regie der Schweizer gerade ein massives Holzhochhaus. Auch das soziale Berliner Bauprojekt soll ein Prestigeprojekt für Renggli werden.
In Berlin geht es zudem um knifflige Details. Der Planungsaufwand ist sehr hoch. Unter anderem haben sich die Genossenschaft und ihr Baustratege Schöningh ausbedungen, dass nur einfache, mechanische und leicht zugängliche Verbindungen zwischen den Bauteilen verwendet werden dürfen.
Schließlich ist da noch die Idee des Kreislaufs. Nicht zufällig heißt der eine Baukörper „Circular“. Es geht um sozialen Austausch, aber auch um Weiter- und Wiederverwendungen. Viele, meist junge Aktivisten, verfolgen in Berlin bereits ähnliche Ideen, sie wollen die großen Überschüsse von Kleidern, Nahrungsmitteln, Elektrogeräten und Konsumgütern, die es überall gibt, weiter nutzen. Eigentlich ist dies eine typische Bewegung von unten.
Hier nun wird alles eine Nummer größer: Am Rollberg steht das Upcycling einer ganzen Halle an, es geht unter anderem darum, keine Energie durch Abriss und Schreddern zu vergeuden. Gleichzeitig wollen die Genossen über ein bloßes Stehenlassen-der-Hülle-und-darauf-Weiterbauen hinausgehen. So soll selbst scheinbar Unliebsames eine neue Aufgabe bekommen. Eine vorgehängte Metallfassade aus den Siebzigern, die jahrzehntelang die backsteinerne Industriehalle auf ganzer Länge verkleidete, ist derzeit verschwunden. Die Bauherren haben sie aber nicht entsorgt, sondern eingelagert. Sie wird, neu zugeschnitten, die aufgestockten Obergeschosse verkleiden.
Auch Neues speist den Kreislauf. Vor der Halle lagert ein riesiger, mit Planen abgedeckter Stapel mit Fenstern. Der Architekt Schöningh hat die edlen dänischen Designfenster, insgesamt sind es 260 Quadratmeter, günstig von einer Großbaustelle bekommen. Dort waren sie überzählig. Bald sollen sie verbaut werden, die geplanten Fassaden der Transform-Häuser müssen jetzt darauf abgestimmt werden.
Das Problem: Ohne weiteres lassen sich solche fremden Fenster gar nicht in den zertifizierten Wandteilen, die aus der Fabrik kommen, verbauen. Solch eine Verfahrensweise, also der genaue technische Ablauf des Zusammenführens der Elemente, wird bisher ohne Vorbild sein – „überhaupt wird alles neu sein“, sagt Christian Schöningh. Meist ist doch beim Hausbau jeder Arbeitsschritt vorausgeplant und eingetaktet. Nun geht es darum, wieder mehr vor Ort auszuprobieren und zu montieren und gleichzeitig wohl auch neue Regularien zu erarbeiten. Nach weiteren verwendbaren Teilen, also Fundstücken von anderen Baustellen, halten sie Ausschau. „Wir werden selbst diese Art der Innovation treiben müssen“, gibt sich Schöningh optimistisch, „das wird unser Fachgebiet.“
Gebrauchte Materialien, die zum Beispiel aus Abrisshäusern stammen, wollen die Planer ebenso in den Bau integrieren. Nur: Welche Lasten darf ein alter Holzbalken übernehmen, und wie genau ist ein Tragwerk aus Alt und Neu zu bauen? Können fabrikneue und gebrauchte Bohlen und Balken gleichberechtigt nebeneinanderliegen oder -stehen? Auch das wird zur Herausforderung, wohl gerade für die Betriebe, die das ausführen sollen. Denn in den üblichen Bauleistungskatalogen der Branche stehen solche Details bisher natürlich nicht.
Damit nicht genug: Jedes eingesetzte Bauteil wollen die Planer akribisch dokumentieren für den Fall einer späteren Demontage und Wiederverwendung. Diesem Grundsatz haben sich die Genossen verschrieben, dem Lego-Prinzip sozusagen. Alles soll so gut wie möglich vorbereitet sein für einen Tag in der Zukunft, wenn man das Gebäude abbauen oder verändern möchte – Teil raus, Teil rein, und das im simpelsten Baukastenverfahren. Nur eines weiß ja auch jeder Lego-Spieler: Die Ordnung ist wichtig. Eine Übersicht darüber, was im Baukasten verfügbar ist, ist schon der halbe Erfolg.