Wissenschaft : Die Ökonomik ist keine zweite Physik
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Wohin entwickelt sich die Ökonomie? Viele Wirtschaftswissenschaftler leben in artifiziellen, scheingenauen Welten. Doch Wissenschaftlichkeit kann man nicht an den zur Anwendung kommenden mathematischen Fertigkeiten messen. Mit der starken Fomalisierung werden falsche Prioritäten gesetzt. Ein Gastbeitrag von Viktor Vanberg.
Die Auseinandersetzung um die Rolle der Wirtschaftspolitik, speziell der Ordnungspolitik, an deutschen Universitäten spiegelt eine Entwicklung wider, die sich seit langem in der Ökonomik vollzieht. Sie wird von nicht wenigen, innerhalb und außerhalb des Faches, als Fehlentwicklung gesehen. Im Kern geht es um die Frage, worauf der wissenschaftliche Anspruch des Fachs zu gründen ist. Dominant geworden ist die Vorstellung, die Wissenschaftlichkeit ökonomischer Beiträge sei an den darin zur Anwendung kommenden mathematischen und statistischen Fertigkeiten zu messen. Dies bestimmt die Veröffentlichungspraxis der "führenden" Fachzeitschriften und die Berufungspraxis an den Universitäten.
Nun wird man einer wissenschaftlichen Disziplin weder einen Vorwurf daraus machen, dass sie sich der formalen Sprache der Mathematik bedient, noch wird man einen Makel darin sehen, dass sie statistische Verfahren nutzt. Wenn Kritiker die auf Formalisierung und quantitative Methoden fixierte Entwicklung als Fehlentwicklung werten, dann allein deshalb, weil falsche Prioritäten gesetzt werden.
Das Werkzeug bestimmt zunehmend, welchen Fragen man sich zuwendet
Das Bestreben, mit möglichst hochgerüstetem Werkzeug zu arbeiten - und mathematisch-statistische Methoden sind für eine Erfahrungswissenschaft bloße Werkzeuge -, begrenzt zunehmend die Probleme und Fragen, denen man sich zuwendet. Die Kritik beginnt dort, wo der Formalisierungsehrgeiz bestimmt, wie man die artifizielle Welt definiert, über die man Aussagen macht, und wo der Quantifizierungsehrgeiz die Verfügbarkeit verwertbarer Daten zum Kompass dafür macht, welche Zusammenhänge man untersucht.
Sind fiskalische Eingriffe in einer Rezession vernünftig? Welche Maßnahmen helfen gegen Arbeitslosigkeit? Welche Auswirkungen haben geldpolitische Schocks? Was genau beeinflusst das langfristige Wirtschaftswachstum? Diese Fragen, die in einer in der F.A.Z. veröffentlichten Attacke von Rüdiger Bachmann und Harald Uhlig auf die Ordnungspolitik ("Der Volkswirt" vom 30. März 2009) genannt wurden, bezeichnen in der Tat die Art von Problemen, zu denen man von der Ökonomik Antworten erwartet. Mit solchen Fragen hat sich die Ordnungsökonomik stets vorrangig beschäftigt, und sie hat dabei als sich ständig fortentwickelndes Forschungsprogramm das Themenspektrum ebenso wie ihr theoretisches Repertoire erweitert.
Der Beitrag von F. A. Hayek, der die Wissensproblematik in einem komplexen, dynamischen Wirtschaftsprozess thematisiert, neuere Beiträge der institutionellen Ökonomik wie etwa die theoretischen Ansätze von Ronald Coase, Douglass North oder James M. Buchanan, evolutorische Ansätze, insbesondere in der Wettbewerbstheorie, oder verhaltensökonomische Beiträge zur Modifikation des Rational-Choice-Modells - all diese Ansätze sind längst mit der deutschsprachigen ordnungsökonomischen Forschungstradition verknüpft worden. Weitere Fragen sind in die Analyse einbezogen worden, etwa zu den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen, die wirtschaftliche Entwicklung und eine an den Bürgerinteressen orientierte Politik fördern, oder den Problemen der Steuerungswirkungen unterschiedlich gestalteter Wirtschaftsverfassungen.
Große Diskrepanz zwischen formalen Modellen und realen Problemen
Wie steht es nun um die "moderne Ökonomik"? Hat sie "gerade aufgrund ihrer quantitativen Ausrichtung viele der einst von der Ordnungspolitik aufgeworfenen Fragestellungen einer tiefer gehenden und sachgerechteren Analyse unterzogen", wie Bachmann und Uhlig meinen? Hat sie wirklich praxisrelevante Ratschläge zu realweltlichen Problemen der Wirtschaftspolitik zu bieten, die über die qualitativen Aussagen der Ordnungspolitik hinausgehen? Mir scheint, dass zwischen formalen Modellen, die für artifizielle Welten definiert sind - das "moderne nobelpreisgeadelte ,mechanism design'" ist dafür ein Musterbeispiel - und den wirtschaftspolitischen Problemen, die sich in der Welt unserer Erfahrung mit ihren realen Institutionen und realen Menschen stellen, eine beträchtliche Diskrepanz besteht, die den Erkenntniswert dieses Instrumentariums einschränkt.
Ob die Fixierung auf eine "quantitative Ausrichtung" einem die Ökonomen seit Léon Walras plagenden "Physik-Neid" zuzuschreiben ist, wie der Theoriegeschichtler Philip Mirowski meint, mag dahingestellt sein. Jedenfalls entspricht sie einem Wissenschaftsideal, das wesentliche Unterschiede zwischen den Erkenntnisproblemen der klassischen Physik und denen einer Lebenswissenschaft wie der Ökonomik verkennt. Die Ökonomik hat es mit offenen, evolvierenden Systemen zu tun, bei denen die Komplexität der Bedingungsfaktoren und der Wechselwirkungen erfinderischer menschlicher Handlungen den Möglichkeiten, präzise quantitative Aussagen zu treffen, enge Grenzen setzt. Sie ist - um eine Redewendung zu benutzen, die der bekannte Evolutionsbiologe Hans Mayr auf die Biologie gemünzt hat - "keine zweite Physik".
Bei komplexen offenen Systemen, für die Marktwirtschaften ein paradigmatisches Beispiel sind, kann man durchaus einiges über die typischen Auswirkungen sagen, die bei systematischen Änderungen in den Rahmenbedingungen zu erwarten sind. Man kann "Mustervoraussagen" treffen, so die Terminologie Hayeks. Aber unsere Möglichkeiten, die konkreten Auswirkungen spezifischer Eingriffe vorauszusagen, sind recht beschränkt. Dies ist der entscheidende Grund, weshalb der Ordnungsökonomik für die Wirtschaftspolitik besondere Bedeutung zukommt. Sie ist das Forschungsprogramm, das sich mit den Steuerungswirkungen befasst, die Änderungen in den institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsprozess und für den politischen Prozess entfalten. Dort, wo eine "quantitative Ausrichtung" den Erkenntniszweck fördert, wird man sie tunlichst nutzen.