Ein Lob : Die Egoisten retten die Welt
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„Nicht vom Wohlwollen des Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass er seine eigenen Interessen wahrnimmt“, sagte einst Adam Smith. Bild: Blend Images / LOOK-foto
Der Eigennutz hat einen schlechten Ruf. Die Altruisten gelten als die besseren Menschen. Das ist ungerecht: Ohne Egoisten wäre die Welt viel ärmer.
Bald gehen sie wieder los: die wohlklingenden Appelle und die gutgemeinten Aufrufe. Die Eltern am Essenstisch, die Politiker hinter den Mikrofonen, die Pfarrer auf der Kanzel - sie alle feiern das Fest der Nächstenliebe. Und machen einen zentralen Wesenszug der Menschen schlecht: den Egoismus.
Vielleicht kritisieren sie den Eigennutz der Verbraucher, die ihre Geschenke billig online bestellen, statt sie bei den Läden in der Fußgängerzone zu kaufen. Vielleicht empören sie sich über die Gier der Aktionäre von Apple und Starbucks, die mit allen legalen Mitteln ihre Gewinne in die Steueroasen verschieben. Vielleicht werden sie aber auch grundsätzlich einmal mehr mahnen, dass arme Leute verhungern müssen, weil egoistische Leute aus reichen Ländern vor lauter Gier die Äcker für Biosprit zweckentfremden. So viel aber ist sicher: An Weihnachten wird die Selbstsucht verdammt. Am lautesten tut das der irdische Stellvertreter des Geburtstagskindes, Papst Franziskus, der von Jahr zu Jahr immer lauter über den Egoismus schimpft.
Noch selten war der Eigennutz so in Verruf wie am Ende des Jahres 2014. Überraschend kommt das nicht. Schon seit ein paar Jahren wird der „Egoist“ als Schimpfwort beliebter. Alles begann mit der Finanzkrise, als Banken ins Schleudern kamen und Staaten ihre Verluste ausglichen und die Öffentlichkeit schnell einen Schuldigen dafür fand: die egoistischen und gierigen Banker. 2013 konnte der Egoismus-Vorwurf eine ganze Partei aus dem Bundestag kegeln. Inzwischen verzeichnen die Google-Suchtrends das Wort „Egoist“ ungefähr doppelt so häufig wie vor acht Jahren.
„Nur aus Egoismus“ zu handeln, ist verpönt
So verpönt ist der Egoismus, dass er inzwischen sogar gute Taten in den Schmutz ziehen kann. Egal ob Chemiekonzerne umweltfreundlicher werden, ob Textilhändler sich besser um die Arbeiterrechte in Südostasien kümmern oder ob Sportartikel-Hersteller auf Kinderarbeit verzichten: Wenn sie davon auch nur ein etwas besseres Ansehen haben könnten, stehen sie sofort im dem Verdacht, sie würden „nur aus Egoismus“ handeln. Schon sind die ganzen guten Taten in den Augen vieler Leute diskreditiert.
Wenn wir da mal nicht übertreiben.
Je lauter die Appelle gegen den Eigennutz werden, umso deutlicher wird auch, dass sich der Egoismus mit all den guten Worten nicht vertreiben lässt. Wer verhindern will, dass der Ehrliche der Dumme ist - der muss den Egoismus ernst nehmen. Und seine guten Seiten sehen. Die werden immer deutlicher.
Die Deutschen haben ein besonderes Problem mit dem Egoismus
Keine Frage: Den Deutschen fällt es schwer, mit dem Egoismus entspannt umzugehen. Seit der Aufklärung vor 300 Jahren haben sie von Immanuel Kant gelernt: Moralisch handelt nur der, der das Gute tut, und zwar aus freien Stücken. Schon wer von den anderen zu den guten Taten genötigt wird, hat moralischen Verbesserungsbedarf. Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel setzte noch einen drauf. Er unterschied zwischen den kritikwürdigen „Besitzbürgern“, die sich vor allem um ihren eigenen Vorteil kümmern, und den guten „Staatsbürgern“, die sich für eine sittliche Organisation des Staates einsetzen. Für gesunden Egoismus bleibt da nicht viel Platz.
Doch ungefähr zur gleichen Zeit entstand in Großbritannien eine ganz andere Tradition der Aufklärung. Darin wird der Egoismus kanalisiert und zum Nutzen der anderen gebracht. Der schottische Philosoph David Hume betonte, dass Menschen durch den Kontakt mit anderen Menschen ihre eigenen egoistischen Interessen zügeln können - weil sie merken, dass sie damit selbst besser fahren. Schon allein dieser Gedanke reicht, um Kindern die größte Selbstsucht abzuerziehen. Aber ein gesundes Maß an Egoismus sollten sie behalten. Denn jeder kennt den Satz des schottischen Moralphilosophen Adam Smith: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“
Was also ist vielversprechender? Dass die Menschen mit Smith und Hume dank ihres Egoismus Gutes tun? Oder dass sie dank der Weihnachtsappelle von Philosophen, Politikern und Pfarrern ihren Egoismus vergessen und die reine Tugend entdecken?
Der Egoismus schien weg zu sein - jetzt kommt er wieder
Ein paar Jahre schien es so, als hätten die Menschen gar keinen Egoismus zu vergessen. Wer wollte, konnte glauben: Die Menschen sind von selbst ganz freundlich zueinander. Es waren die großen Jahre der Verhaltensforscher, vor allem in den Wirtschaftswissenschaften. Die hatten gerade bemerkt, dass Menschen nicht immer alles für sich wollen.
Das beste Beispiel gegen den Egoismus heißt „Diktatorspiel“. Dieses Spiel ist ziemlich einfach. Die Forscher nehmen zwei Probanden, die sich vorher nicht kennen und vielleicht sogar ganz anonym bleiben. Dann geben sie einem Probanden zehn Euro. Der darf dem anderen so viel Geld weiterschenken, wie er möchte - oder auch gar nichts. In diesem Spiel geben die Leute von ihren 10 Euro durchschnittlich 2,80 Euro ab, so ergab es am Max-Planck-Institut in Bonn eine Analyse von 255 unterschiedlichen Experimenten mit dem Diktatorspiel. „2,80 Euro, das ist doch nicht egoistisch“, sagte mancher Verhaltensforscher und erklärte das Bild vom selbstsüchtigen Menschen für überholt. „Der Homo Oeconomicus ist tot“ hießen die Überschriften in den Medien. Und der Egoismus kam noch mehr in Verruf. Plötzlich war der Egoismus keine natürliche Eigenschaft des normalen Menschen mehr, sondern nur noch die Abnormität der schlecht erzogenen.
Doch das war ein Irrtum. Trotz Diktatorspiel ist der Egoismus im wahren Leben viel verbreiteter als angenommen. Das ist nur nicht sofort aufgefallen. Es hat nämlich ein paar Jahre gedauert, bis jemandem einfiel, wie man das Diktatorspiel in die Realität bringen kann. Auf der Straße kommt ja nicht ständig jemand vorbei und verschenkt zehn Euro. Vergangenes Jahr aber hatten zwei Kulturforscher aus Texas die zündende Idee. Sie fuhren ins Casinoparadies nach Las Vegas und deckten sich mit Casino-Chips ein. Dann suchten sie sich Bushaltestellen, an denen ein paar Leute warteten. Einer der Forscher stieg aus dem Auto, lief zu einem der Wartenden und sagte: „Ich habe noch Casino-Chips übrig, aber ich muss zum Flugzeug. Die Chips schenke ich dir, du kannst ja dem Kerl da drüben noch etwas abgeben.“ In dieser Ausgabe des Diktatorspiels teilte niemand seinen neu erworbenen Reichtum.
Inzwischen stellen noch mehr Verhaltensforscher fest: Der Altruismus aus ihren Versuchslaboren ist ziemlich schwach und verschwindet schnell, wenn die Versuche realistischer werden. Wenn nicht einer allein entscheidet, was er abgibt, sondern zwei Leute ein Diktator-Team bilden und gemeinsam nachdenken - dann sind die zwei zusammen viel unfreundlicher als einer allein.
Noch deutlicher wird das, wenn die Leute für ihr Geld arbeiten müssen oder wenn sie irgendeinen anderen Grund finden, mit dem sie das Geld für sich rechtfertigen können - schon vergessen sie das Teilen und halten andere Prinzipien hoch. Die Menschen sind da erstaunlich flexibel: Sie mögen immer das Moralprinzip, das ihnen selbst gerade am meisten Geld bringt. Mancher Hirnforscher glaubt inzwischen, dass den Menschen ihr Eigennutz oft gar nicht bewusst ist. Messbar ist er trotzdem.
Der Eigennutz ist wieder da - und das ist gut so
Schlagartig ist der Egoismus wieder da, und zwar lebendiger als je zuvor. Er ist keine schlechte Angewohnheit mehr, die man überkommen muss. Plötzlich ist der Egoismus wieder die zentrale Triebfeder des Menschen.
Und was jetzt? Ist die Menschheit ob des schrecklichen Egoismus zum Untergang verdammt? Weit gefehlt. Gerade der Egoismus kann das Zusammenleben in der Gesellschaft erfolgreich machen. Selbst der Aufklärer Immanuel Kant, der große Gegner des Egoismus, sagt: „Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar.“
So nutzten die New Yorker Schulen den Eigennutz
Das muss man nicht 300 Jahre alten Philosophen glauben, dazu reicht auch ein Blick nach New York. Am besten auf die Schulbehörde, die jedes Jahr rund 100.000 Schüler auf 500 Schulen verteilen muss. Es geht um die Zukunft der Kinder, und da fährt jeder seinen ganzen Egoismus aus. Die Schüler, die schon ein Angebot haben, halten ihre Schule hin und hoffen noch auf ein besseres Angebot, nur um dann kurzfristig abzusagen. So verzögern sie die ganze Zuteilung. Die Schulen aber sind nicht besser: Sie täuschten die Schulbehörde systematisch darüber, wie viele Plätze sie frei hatten. Fast immer lügen sie ihre Kapazitäten kleiner. Am Ende findet ein Drittel der Schüler keinen Platz in der Lieblingsschule und wird mehr oder weniger zufällig dorthin verteilt, wo noch Platz ist. So ging es jahrelang.
Da könnten Weihnachtsredner Egoismus und Unehrlichkeit geißeln. Sie könnten den Schülern ein schlechtes Gewissen machen, weil die sich mit ihrer Entscheidung nicht genug beeilen. Sie könnten die Schulleiter an den Pranger stellen, weil die falsche Zahlen nennen. Aber die New Yorker Schulbehörde machte es anders. Sie nahm den Egoismus von Schülern und Schulen nicht nur hin, sie nutzte ihn.
Warum waren Schüler und Schulen so unfreundlich? Es war das Verteilsystem, das sie dazu trieb. Das war so vertrackt gebaut, dass es die Schüler zum Pokern geradezu nötigte. Wer auf die beste Schule wollte, konnte gar nicht freundlich sein. Und wenn Schulen die besten Schüler bekommen wollten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich einige Plätze für eine Nachbesetzung offenzuhalten.
Also gab sich die Schulbehörde neue Regeln zur Schüler-Verteilung, die den Egoismus aller Beteiligten nutzten. Die Behörde stellte sicher, dass jeder Schüler an seine bevorzugte Schule kam, wenn die ihn nur annehmen wollte. Die Schulen wiederum konnten sich keine besseren Schüler mehr verschaffen, indem sie der Schulbehörde freie Plätze verschwiegen. Der Erfolg war sofort sichtbar. Im ersten Jahr, in dem die neuen Regeln galten, sank die Zahl der übriggebliebenen Schüler von 30.000 auf 3000.
Verlange nie, dass die Leute gegen ihre Interessen handeln
Für diese Reform hatte die Schulbehörde einen Berater. Er heißt Al Roth und hat vor einem Jahr für diese Idee und für einige andere aus dieser neuen Disziplin, dem „Marktdesign“, den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Roth hat ein Berufsleben lang darüber nachgedacht, welche Regeln dauerhaft funktionieren. Einer seiner wichtigsten Grundsätze heißt im Wissenschaftlerdeutsch „Anreizkompatibilität“ - auf Deutsch: Verlange nie, dass sich die Leute gegen ihre eigenen Interessen entscheiden. So wird der Egoismus zur gesunden Triebfeder. Denn dass die Leute ihre eigenen Interessen vorantreiben, darauf kann man sich verlassen.
Auch moderne deutsche Ethiker erkennen immer häufiger die Tugend am Eigennutz. In den vergangenen Jahrzehnten hat der Philosoph Karl Homann eine ganze ethische Schule gegründet, die im Kern sagt: Wenn etwas moralisch Fragwürdiges passiert, dann sind nicht die Leute schuld, solange sie sich an die Regeln gehalten haben. Sondern dann müssen die Regeln geändert werden.
Dafür haben Homann und seine Schüler drei Gründe: Erstens gibt es in großen Gesellschaften sowieso viele unterschiedliche Vorstellungen davon, was moralisch richtig und was überegoistisch ist. Zweitens werden in großen Gesellschaften die Interaktionen anonymer, das verhilft dem Egoismus ans Licht. Und drittens ist viel zu oft der Ehrliche der Dumme. Wenn ein Unternehmer mehr Steuern zahlt, als das Gesetz gerade so vorschreibt, dann hat er immer einen Nachteil gegenüber denen, die ihre Steuern nicht zahlen. Wenn dann das gute Unternehmen irgendwann schließen muss, dann hat auch niemand etwas davon.
Wo ein Staat seine Regeln aber so gestaltet, dass sie auch für die egoistischsten Leute funktionieren - da bricht nichts mehr zusammen, wenn einer zu schwach zum Altruismus war. Da sind die Menschen nicht ständig zwischen Eigeninteresse und Freundlichkeit hin und her gerissen. Und da ist der Ehrliche nicht der Dumme, sondern der Unfreundliche hat keinen Vorteil.
In diesem Jahr erst hat Homanns Schüler Christoph Lütge ein kleines Taschenbuch veröffentlicht, in dem er das theoretische Prinzip in die Praxis bringt. Gesundheit, Bildung, Hunger - wenigstens ein erster Schritt gegen die Probleme der Menschheit findet sich fast immer, wenn man nur den Egoismus ernst nimmt.
Was ist zum Beispiel mit all den gierigen Leuten, die auf wertvollen Ackerflächen aus Egoismus und Profitgier Raps für Biosprit anbauen und so nach landläufiger Meinung den Hunger auf der Welt vergrößern? Der erste Schritt ist gar nicht so kompliziert. Wenn der Staat aufhören würde, den umwelttechnisch umstrittenen Biosprit an der Tankstelle zu fördern - dann gäbe es mit Biosprit weniger zu verdienen, und der Egoismus würde ganz von selbst wieder zu mehr Getreideanbau führen.