Aufschwung : Warum ist Wirtschaftsgeschichte plötzlich sexy?
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Menschenauflauf gegenüber der New Yorker Börse während der Weltwirtschaftskrise 1929 ... Bild: AP
Jahrelang hat sich kaum jemand für Wirtschaftsgeschichte interessiert. Doch jetzt sind alle wild darauf. Wir haben vier spannende Beispiele - und die Gründe für den Aufstieg der Geschichte.
Spielen die Börsen verrückt? Ja, aber nicht erst seit ein paar Jahren. Sie taten es schon im 18. Jahrhundert, wie eine Studie des Historikers Peter Koudijs an der Universität Stanford zeigt. Damals kamen die wichtigsten Nachrichten für die Amsterdamer Börse per Schiff aus London. Manchmal aber stand der Wind so ungünstig, dass die Schiffe nicht durchkamen. In dieser Zeit bewegten sich die Aktienkurse trotzdem, obwohl es eigentlich gar nichts Neues gab. Der Historiker hat ausgerechnet: Die Nachrichten aus London sorgten höchstens für die Hälfte der Kursschwankungen, vielleicht auch nur für ein Viertel.
Noch vor wenigen Jahren wäre so eine Studie vielleicht nicht gemacht worden, und wenn doch, hätte es kaum jemand mitbekommen. Doch die Wirtschaftsgeschichte ist spannender geworden. Mehr und mehr Forscher suchen nach Antworten für die Probleme von heute in den vergangenen Jahrhunderten, gleichzeitig werden ihre Studien immer häufiger gelesen.
Ein Forschungsbericht wird zum Bestseller
Dass das Interesse an der Wirtschaftsgeschichte wächst, zeigt das Beispiel von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff. Das sind zwei Ökonomen, die vor rund zehn Jahren beim Internationalen Währungsfonds (IWF) arbeiteten. Damals hieß das: Sie arbeiteten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Heute noch wissen wenige Leute ganz genau, was der IWF macht. Für die Arbeit seiner Ökonomen interessieren sich noch weniger. Und wenn diese Ökonomen nach jahrelanger Detailarbeit einen Forschungsbericht mit 125 Seiten verfassen, lesen den nur noch die treuesten Fans - normalerweise.
Doch als die beiden im März 2008 mit ihrer Arbeit fertig waren, hatten die Vorläufer der großen Finanzkrise gerade begonnen. Und ihre Untersuchung über 800 Jahre Finanzkrisen-Geschichte wurde nicht nur zum Buch gemacht, sondern stürmte in den Vereinigten Staaten die Bestseller-Listen und brachte es sogar bis zur Taschenbuch-Ausgabe.
Drei Gründe für den Aufstieg
„Es gibt auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit für historische Daten“, sagt der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona. Er und seine Kollegen sehen vor allem drei Gründe: Erstens mussten die Ökonomen sowieso umdenken, nachdem sie die Finanzkrise verpasst hatten, also waren ihnen neue Forschungsmethoden sehr willkommen.
Zweitens machte die Krise deutlich, dass manche Gefahren beim Blick auf die letzten paar Jahre schlicht nicht zu sehen sind. Früher testeten Ökonomen ihre Thesen oft nur an den vergangenen 20 Jahren. Die Krise allerdings lehrte die Forscher, das man manchmal weit nach hinten schauen muss, um ähnliche Situationen zu finden und die Gefahren zu erkennen.
Drittens waren viele Volkswirte, aber auch Politiker und Manager selbst hilflos, weil sie so eine Situation noch nicht erlebt hatten - also entwickelten sie großes Interesse an der Vergangenheit, in der Hoffnung, dort Anleitungen für ihr Handeln zu finden. „Für die Wirtschaftsgeschichte war die Krise gut“, sagt Voth.
Das gilt umso mehr, als das Paradebuch auch noch einen enormen sachlichen Erfolg hatte. Während die Ökonomen mit den alten Methoden die Krise nicht vorhersagen konnten, trafen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff mit ihrer Analyse früherer Finanzkrisen exakt den weiteren Krisenverlauf in Amerika.