WM in Brasilien : Blues statt Samba
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Der kostspielige Umbau von Brasiliens Fußballtempel Maracana sorgte für viel Aufregung. Bild: AFP
Die meisten Brasilianer glauben, dass die WM wirtschaftlich mehr Nach- als Vorteile bringt. Die Sorgen von Unternehmen und Verbrauchern werden immer größer.
In wenigen Wochen wird in Brasilien das große Fußballfest steigen. Früheren Prognosen zufolge hätte das auch in der Wirtschaft Anlass zum Feiern geben sollen. Doch stattdessen herrscht allenthalben Katerstimmung. Die Zuversicht von Unternehmen und Verbrauchern sinkt von Monat zu Monat. Nur in wenigen Branchen wie dem Fremdenverkehr und der Getränkeindustrie wird durch die Fußball-Weltmeisterschaft eine Belebung erwartet. Andere Wirtschaftszweige fürchten vielmehr, dass die Brasilianer in den fußballverrückten Wochen wenig kaufen und auch weniger arbeiten werden.
Eine Mehrheit der Brasilianer glaubt inzwischen ohnehin, dass die WM dem Land wirtschaftlich mehr Nachteile als Nutzen bringen wird. Zwar dürften die Stadien wohl auf den letzten Drücker fertig werden. Doch auf den Zufahrtswegen und an den chronisch überlasteten Flughäfen wird voraussichtlich Chaos herrschen. Die Sorge ist groß, dass das Turnier im Blick der Welt zu einer Blamage werden und im Land selbst zu sozialem Aufruhr führen könnte. Mit Bitterkeit registrieren die Brasilianer, dass von dem versprochenen Ausbau der Infrastruktur wenig realisiert wurde. Nach der WM werden viel zu teure Stadien an exotischen Standorten wie Manaus und Cuiabá stehen, wo dann nur noch drittklassige Clubs vor leeren Rängen kicken. Zahlreiche Projekte zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs an den WM-Spielorten sind dagegen weit in Verzug oder ganz aufgegeben worden.
Proteste dürften sich zur WM wieder aufheizen
Vor Jahresfrist waren die Brasilianer zu den größten Massendemonstrationen seit zwanzig Jahren auf die Straßen gezogen, um angesichts der Verschwendung bei Stadionbauten gegen die Vernachlässigung von Investitionen in Bildung, Gesundheit, Busse und Bahnen zu demonstrieren. Zur WM dürften sich die ständig schwelenden Proteste wieder aufheizen. Unternehmen und Verbraucher ächzen unter hohen Steuern und lähmender Bürokratie. Der Anteil der Staatseinnahmen am Bruttoinlandsprodukt ist mit 37 Prozent in Brasilien höher als in manchen entwickelten Industrieländern. Doch dem steht keine entsprechende soziale Infrastruktur gegenüber. „Europäische Steuern für afrikanische Leistungen“ – dagegen richtet sich der Protest der zunehmend frustrierten Mittelschicht.
Brasiliens Boom ist lange vorbei. Die ständige Ankurbelung des Konsums greift nicht mehr, die Investitionen sind zu niedrig. Das Wirtschaftswachstum dümpelt unter 2 Prozent. Gleichzeitig hat sich die Inflation trotz der drastischen Leitzinserhöhungen um fast 4 Prozentpunkte in einem Jahr abermals auf mehr als 6 Prozent beschleunigt. Für die Ratingagentur Standard & Poor’s rangiert die Bonität brasilianischer Staatsanleihen nur noch eine Stufe über Ramschniveau. Ökonomen kritisieren vor allem die Buchungstricks, mit denen die Regierung ihre Haushaltsdaten schönt. Aufgrund des hohen Leistungsbilanzdefizits von 3,6 Prozent des BIP zählt Brasilien zu den Ländern, die im Falle einer stärkeren Drosselung der amerikanischen Geldpolitik als besonders verwundbar gelten. Die hohe Verschuldung der Verbraucher setzt dem Konsumwachstum Grenzen. Fast jeder zweite Kreditantrag für den Kauf eines Autos wird inzwischen von den Banken abgelehnt. Zu allem droht nun auch noch Energieknappheit. Denn eine extreme Dürre hat die Reservoirs der in Brasiliens Stromversorgung dominierenden Wasserkraftwerke ausgetrocknet.
Effizienzschub in der Regierungsführung nicht erkennbar
Vor den Präsidentenwahlen im Oktober gerät Staatspräsidentin Dilma Rousseff durch diese Entwicklungen immer stärker unter Druck. Jüngste Umfragen zeigen, dass ihre Wiederwahl längst nicht mehr so sicher erscheint wie noch vor wenigen Monaten. Korruptionsskandale und gigantische Fehlinvestitionen beim staatlich kontrollierten Ölkonzern Petrobras tangieren Rousseff als frühere Aufsichtsratschefin von Petrobras persönlich. Gerade von der Technokratin Rousseff hatten viele Beobachter einen Effizienzschub in der Regierungsführung erwartet. Doch der ist nicht erkennbar. Eine Fülle von konjunktur- und industriepolitischen Einzelmaßnahmen hat die Wirtschaft mehr verunsichert als stimuliert.
Die immer noch stark abgeschottete Industrie Brasiliens hat in den letzten zehn Jahren dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Nach einer Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group sind die industriellen Fertigungskosten in Brasilien heute 23 Prozent höher als in den Vereinigten Staaten. Vor zehn Jahren waren sie noch 3 Prozent niedriger. Während sich die Löhne seit 2004 verdoppelt haben, erhöhte sich die Produktivität lediglich um 3 Prozent. Unter 25 führenden Exportnationen liegt Brasilien nach seiner Wettbewerbsstärke im untersten Fünftel. Somit ist es wohl nur eine Frage der Zeit, bis der zuletzt erstarkte Real abermals unter Abwertungsdruck geraten wird.
An der seit Jahren schwachen Börse von São Paulo keimt trotz allem neue Hoffnung. Die Anleger setzen offenbar darauf, dass in den Oktoberwahlen der als wirtschaftsfreundlicher geltende Sozialdemokrat Aécio Neves den Sieg erringen könnte. Seit Rousseffs Umfragewerte fallen, sind die Aktienkurse jedenfalls in die Höhe geschossen.