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Weitreichende Reformüberlegungen : Versicherer wollen „Rückbau der Sozialsysteme“

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Kein Kommentar zum Papier: Merkel beim „Festakt 125 Jahre Gesetzliche Krankenversicherung”

Kein Kommentar zum Papier: Merkel beim „Festakt 125 Jahre Gesetzliche Krankenversicherung” Bild: dpa

Der Staat soll nur noch einen Grundschutz für Rente und Krankheit stellen. Was darüber hinausgeht, wollen die Versicherungen privat absichern. Das sind die Reformüberlegungen der privaten Versicherungsbranche - sie stoßen bisher auf ein kontroverses Echo.

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          Die Reformüberlegungen der privaten Versicherungsbranche gehen weit über die bislang bekannt gewordenen Pläne zum Umbau der Krankenversicherung hinaus. So schlagen die Autoren des Positionspapiers „Soziale Sicherung 2020: Angebote der deutschen Versicherungswirtschaft“ vor, die gesetzliche Rentenversicherung abzuschaffen und auf eine steuerfinanzierte einheitliche Grundrente für alle umzustellen. Die Pflegeversicherung soll komplett in ein privates, kapitalgedecktes System umgebaut werden; die Arbeitslosenversicherung halten sie für „nicht zwingend“. Der Vorschlag, die gesetzliche und private Krankenversicherung auf ein einheitliches privatwirtschaftliches Prämienmodell umzustellen, stieß auf ein kontroverses Echo.

          Andreas Mihm
          Wirtschaftskorrespondent für Österreich, Ostmittel-, Südosteuropa und die Türkei mit Sitz in Wien.

          Das von hochrangigen Vertretern der Versicherungswirtschaft erstellte, aber von deren Gremien noch nicht verhandelte Positionspapier basiert auf der Annahme, dass der Staat in den kommenden Jahren nicht mehr in der Lage sein wird, die vielfältigen sozialpolitischen Ansprüche und Versprechungen auch zu gewähren. Gründe dafür seien die Folgen des demographischen Wandels, der Globalisierung und die „auf Dauer schwierige Finanzlage der öffentlichen Haushalte“.

          Neue Kultur der Eigenverantwortung

          Deshalb müssten die staatlichen Vorsorgesysteme sich auf ihre „Kernaufgaben konzentrieren“. In dem Papier ist von „Rückführung“ und „Rückbau der staatlichen Sozialsysteme“ die Rede. Der Einzelne müsse mehr Eigenverantwortung übernehmen. Damit die Bürger dazu – in Form von privaten Zusatzversicherungen – auch in der Lage seien, müsse der Staat die entsprechende Förderung ausbauen.

          In dem Papier wird dafür geworben, die „Sozialversicherungsmentalität zu überwinden und eine neue Kultur der Eigenverantwortung zu entwickeln“. Bei den Bürgern müsse für den Umbau geworben werden, „insbesondere auch für die notwendigen Leistungskürzungen in den staatlichen Systemen und die unvermeidbaren temporären Mehrbelastungen“ für den Umstieg von der Umlagefinanzierung auf eine Kapitaldeckung. Die Kosten dafür werden auf jährlich zweistellige Milliardenbeträge beziffert. Die Zusatzkosten könnten unter anderem dadurch finanziert werden, dass die bisher von den Arbeitgebern anteilig bezahlten Sozialversicherungsbeiträge an die Versicherten ausgezahlt würden.

          Drei-Schichten-Modell

          Private Vorsorge sei effizient, nachhaltig und belaste wegen der Kapitaldeckung spätere Generationen nicht. Sie werde „in immer stärkerem Maße bisher staatliche Leistungen ersetzen“, heißt es in der 49 Seiten umfassenden Ausarbeitung, deren Thesen in der Branche sehr umstritten sind. In Branchenkreisen wurde etwa mit Verwunderung registriert, dass die Autoren sich mit der Forderung nach einer Grundrente linke und SPD-Positionen zu eigen machen. Gleichzeitig schädigten die Vorschläge das Geschäft in der klassischen Lebensversicherung, hieß es.

          In der Rentenversicherung plädiert die Studie für ein Drei-Schichten-Modell. Dieses besteht aus einer abgespeckten Grundsicherung für alle, staatlich gefördertem Vorsorgesparen in privater oder betrieblicher Alterssicherung sowie rein privaten Rentensparplänen. „Ein derartiges Zukunftsmodell mag radikal anmuten“, schreiben die Autoren. Doch sei es die logische Konsequenz der vergangenen Rentenreformen. „Mit der Überführung der bisherigen öffentlichen Grundsicherungssysteme in ein einheitliches System der Grundsicherung würde dieser Weg daher nur konsequent fortgesetzt.“ Für den Umstieg sprächen nicht nur die zunehmende Nivellierung der gesetzlichen Rente. Die Grundrente sei vielmehr transparent, bürokratiearm und einfach verständlich. Auch stärke sie die soziale Gerechtigkeit, „weil das neue Sicherungssystem für Arbeitnehmer, Beamte und Selbständige gleichermaßen gilt“.

          Was die Studie der Versicherer vorschlägt: Grund- und Basisabsicherung

          Nach dem in der Versicherungsbranche umstrittenen Entwurf für ein „Positionspapier der deutschen Versicherungswirtschaft zur Zukunft der sozialen Sicherung in Deutschland“ soll der Staat künftig nur noch eine deutlich abgespeckte Grund- und Basisabsicherung sozialer Risiken verantworten. Für die Absicherung aller weiteren Risiken sollen die privaten Versicherungen zuständig sein. Dafür solle der Staat seine Förderung ausbauen.

          Die gesetzliche Rentenversicherung soll demnach in der bestehenden Form abgeschafft und durch eine universelle, steuerfinanzierte Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung ersetzt werden. Die Hinterbliebenenversorgung würde darin eingegliedert. Der Staat soll die Förderung von privaten („Riester“-) und betrieblichen Renten ausbauen.

          Die gesetzliche und private Krankenversicherung gehen in eine Pflichtversicherung für einen „Grundschutz“ auf. Der muss unabhängig von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen von allen Anbietern für eine einheitliche Pauschale offeriert werden. Alle Versicherungen werden privatisiert, was dem niederländischen Modell ähnelt. Im Gegensatz dazu sollen hierzulande aber Altersrückstellungen gebildet werden. Weil die Branche weiß, dass der Umbau „nur sehr langfristig anzustreben“ ist, setzt sie auf eine Auslagerung von Leistungen aus der gesetzlichen in die private Versicherung, auf eine Begrenzung des Leistungsangebotes gesetzlicher Kassen, die Absenkung der Eintrittshürde von heute 4000 Euro Monatseinkommen und eine Steuerfinanzierung auch der privaten Kinderversicherung.

          Auch die Pflegeversicherung soll auf eine einheitliche Grundsicherung, allerdings komplett kapitalgedeckt, umgestellt werden. Noch sei der Umstieg möglich. Für jeden Bürger bis zum Alter von 60 Jahren koste das dann zwischen 19 und 68 Euro im Monat; heute sind es je nach Einkommen maximal 70 Euro je Beitragszahler, bei Berufstätigen zahlt der Arbeitgeber die Hälfte.

          Die gesetzliche Arbeitslosenversicherung hält die Branche glatt für überflüssig. Da das Existenzminimum durch das Arbeitslosengeld II gesichert werde, sei „ihre sozialpolitische Legitimation fraglich, die Fortführung dieses Sozialversicherungszweigs nicht zwingend“. Allerdings: „Um den Markt für die private Arbeitslosenversicherung zu stärken, würde sich eine staatliche Förderung auch für diesen Bereich der sozialen Sicherung anbieten.“

          Wenig Alternativen haben die Privatversicherer für die gesetzliche Unfallversicherung zur Hand. Allerdings wollen sie die Wegeunfälle von und zur Arbeit privat abgesichert sehen - bei ihnen.

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