
Ungarn : Zwischen Triumph und Wirklichkeit
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Viktor Orbán: Seine Phantasie bezüglich Steuererhöhungen scheint grenzenlos Bild: Fricke, Helmut
Vor der Sommerpause urteilt Viktor Orbán zu optimistisch über die Lage seiner Nation. In Wirklichkeit ist Ungarn immer noch ein chronischer Haushaltssünder mit stagnierender Wirtschaft.
Mit großer Genugtuung hat sich in Ungarn die nationalkonservative Regierung in die Sommerpause verabschiedet. Seit Amtsantritt vor mehr als drei Jahren war es das erste Mal, dass Ministerpräsident Viktor Orbán derart zuversichtlich über die Lage seiner Nation urteilte. Ungarn sei aus dem Loch geklettert, in das es von den Sozialisten gestoßen wurde, sagte der Frontmann des Bürgerbunds Fidesz. Schon jetzt sieht der Volksvertreter sein Land als eine der vielversprechendsten Volkswirtschaften Europas.
Hier ist der Wunsch Vater des Gedankens, wenngleich das Kabinett zumindest in einigen Punkten bemerkenswerte Fortschritte verbuchen kann. Erstmals seit neun Jahren wird Ungarn auf Empfehlung der EU-Kommission aus dem Defizitverfahren entlassen, das es sich als chronischer Haushaltssünder eingebrockt hat. Daraus lässt sich allerdings nicht ableiten, dass Budapest finanzpolitisch glänzt. Noch immer ist das mitteleuropäische kleine Land mit seinen Wirtschaftsdaten ein Sorgenkind unter den etablierten Märkten der Region.
Ungarn beendet die Zusammenarbeit mit dem IWF
Nach wie vor beträgt der Schuldenberg mehr als drei Viertel des Bruttoinlandsprodukts. Die Entlassung aus dem Defizitverfahren betrifft rund ein halbes Dutzend EU-Mitglieder und vollzieht sich vor allem aus dem politischen Kalkül, angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute einer mehr am Wirtschaftswachstum ausgerichteten Fiskalpolitik Raum zu geben. Der soziale Druck im Gefüge der so unterschiedlichen EU war zu groß geworden, Ungarn profitiert davon. Dabei bedeutet der Schritt zunächst einmal den Wegfall der Drohung, EU-Gelder zu sperren.
Vor diesem Hintergrund beendet die Regierung die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der aus ihrer Sicht unzumutbare Forderungen stellt. Verhandlungen über eine Hilfestellung sind vor zwei Jahren ins Stocken geraten. Mit dem Rausschmiss des IWF, der das Land vor vier Jahren vor dem Bankrott gerettet hat, will Fidesz die Handlungsfreiheit ein Jahr vor der Wahl an sich reißen.
Für Orbán ist es der Weg aus der Knechtschaft
Für Orbán ist es der Weg aus der Knechtschaft. Dessen ungeachtet ist Ungarn wie viele andere Länder Europas eine kleine, offene Volkswirtschaft und daher von seinen Wirtschaftspartnern abhängig. Im Vergleich zu seinen Nachbarn ist das Land sogar besonders angewiesen auf den Außenhandel. Der Export hängt direkt an der Konjunktur von Euroraum und Weltwirtschaft. Die Abkehr vom Währungsfonds kostet das Land möglicherweise Geld, weil es nun voraussichtlich höhere Zinsen zahlen muss.
Zwar kann sich Ungarn derzeit gut über den Markt finanzieren. Ohne Zweifel ist die kleine Volkswirtschaft aber nicht so gesund, dass ein Wiedersehen mit dem Währungsfonds ausgeschlossen werden kann. Mit seinem Forint bleibt Ungarn ein Spielball der Märkte, die das Land schlagartig in eine unangenehme Lage bringen können. Deswegen täte Orbán gut daran, auch ohne Druck des IWF die von diesem geforderten Reformen endlich anzugehen.
Mehr Steuererhöhungen als jede andere ungarische Regierung
Denn mitnichten ist Orbáns Zuversicht durch eine steile Aufwärtsentwicklung gedeckt. Im Vergleich zu anderen Ländern sind Ungarns Aussichten nach wie vor verhangen. Während wichtige Konkurrenten wie die Tschechische Republik und die Slowakei sowie Polen in diesem Jahr zumindest um bis zu einem Prozent wachsen dürften, wird Ungarn bestenfalls leicht aus der Stagnation kommen. Hingegen sieht die Regierung die Wirtschaft wieder auf dem Wachstumspfad.
Das zweite Kabinett Orbán hat bisher mehr Steuererhöhungen als jede andere ungarische Regierung vorgenommen. Seine Phantasie diesbezüglich scheint grenzenlos. Zur Sanierung des Haushalts wurden den Bürgern und Unternehmen zahlreiche neue Steuern aufgebürdet. Entsprechend bleibt die Abgabenquote weiterhin deutlich höher als in den anderen postkommunistischen Ländern. Hingegen tut sich auf der Ausgabenseite nur wenig.
Auch deshalb blicken Investoren mit gemischten Gefühlen auf den einstigen Musterschüler nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die für den Wohlstand des Landes so wichtigen ausländischen Unternehmen, darunter deutsche als bedeutendste Gruppe, beanstanden zu Recht die Steuerbelastung und die mangelnde Berechenbarkeit der Regierung. Verunsichernd wirken die häufigen Änderungen der gesetzlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen. Laufende Geschäfte können schlechter geplant werden, insbesondere Investitionen.
Ist die Unsicherheit zu groß, werden Investitionen aufgeschoben, aufgegeben oder in anderen Ländern verwirklicht. Das lässt den Aufholprozess gegenüber Westeuropa weiter stocken. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung liegt bei zwei Dritteln des EU-Durchschnitts. Andere etablierte Märkte des früheren Ostblocks sind hier weiter vorangeschritten. Weder im absoluten Vergleich der Wirtschaftsentwicklung noch hinsichtlich des relativen Wohlstands hat Ungarn also einen Grund, sich schon als Lehrmeister hinzustellen.