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Umstrittene Rente mit 63 : Der Ruhestandsmagnet

100.000 Arbeitskräfte sind durch die Rente mit 63 verloren gegangen Bild: dpa

Die abschlagsfreie Rente mit 63 hat bereits 100.000. Arbeitskräfte in den Ruhestand gelockt - darunter viele Fachkräfte. Arbeitgeberpräsident Kramer fordert daher eine schnelle Abschaffung des erst ein Jahr alten Gesetzes

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          Das umstrittene Rentenpaket der großen Koalition hinterlässt nach Erkenntnissen der Arbeitgeber tiefe Spuren auf dem Arbeitsmarkt. „Durch die abschlagsfreie Rente ab 63 sind uns bereits im ersten Jahr nach Inkrafttreten rund 100.000 Arbeitskräfte verlorengegangen, darunter viele dringend benötigte Fachkräfte“, sagte Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer dieser Zeitung. Das entspreche ungefähr der Zahl der Arbeitskräfte, die heute insgesamt in Städten wie Mainz, Wolfsburg oder Wuppertal arbeiten.

          Dietrich Creutzburg
          Wirtschaftskorrespondent in Berlin.

          Kramer stützt sich auf die jüngste Quartalsstatistik der Bundesagentur für Arbeit. Sie zeigt, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Altersgruppe der 63- bis 65-Jährigen von Mitte 2014 bis März 2015 um 40.000 gesunken ist. Im Vorjahreszeitraum war die Zahl noch um 36.000 gestiegen – so wie es bisher dem längerfristigen Trend entsprach. Rechnet man die Differenz von insgesamt 76.000 Arbeitskräften in dem Dreivierteljahr auf ein Jahr hoch, dann dürfte die Marke von 100.000 Arbeitskräften inzwischen überschritten sein.

          Andrea Nahles Prognosen haben sich erfüllt

          Anders als die Rentenstatistik liefern die Daten der Bundesagentur recht deutliche Hinweise darauf, dass die betreffenden Arbeitskräfte tatsächlich durch die neue abschlagsfreie Rente mit 63 in den vorgezogenen Ruhestand gelockt wurden. Nach Zählung der Deutschen Rentenversicherung Bund haben inzwischen 300.000 Versicherte die abschlagsfreie Rente mit 63 beantragt. Doch bleibt stets im Dunkeln, wie viele von ihnen möglicherweise auch ohne das neue Gesetz vorzeitig in Rente gegangen wären – notfalls unter Inkaufnahme von Rentenabschlägen.

          Das Bundesarbeitsministerium hatte prognostiziert, dass von Juli bis Dezember 2014 insgesamt rund 200.000 Versicherte die abschlagsfreie Rente mit 63 beantragen würden. Davon würden wohl etwa ein Viertel, also rund 50.000, erst durch das neue Gesetz vorzeitig in Rente gelockt. Tatsächlich wurden bis Ende Dezember 206.000 Anträge auf die neue Rente mit 63 gestellt. Und die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 63 bis 65 ging in dieser Zeit, gemessen am Vorjahrestrend, um knapp 58.000 zurück. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat dies kürzlich so bewertet, dass sich ihre Prognosen in der Wirklichkeit fast punktgenau erfüllt hätten.

          SPD und Union sind gefordert

          Kramer stellt sich indes nicht nur gegen diese Bewertung. Er legte der großen Koalition überdies nahe, ihre eigenen Beschlüsse zu korrigieren. „Wenn die Koalition den Fachkräftemangel wirklich ernst nimmt, müsste sie die abschlagsfreie Rente ab 63 abschaffen“, sagte der Präsident der Arbeitgebervereinigung BGA. Die „Rentengeschenke“ machten die Anstrengungen der Arbeitgeber zunichte, mehr Ältere in Beschäftigung zu bringen und zu halten – und obendrein würden Arbeitgeber und Arbeitnehmer dafür noch mit Beitragsgeldern von 3 Milliarden Euro im Jahr zur Kasse gebeten.

          Umso mehr komme es darauf an, dass Union und SPD endlich gemeinsame Vorschläge für eine sogenannte Flexi-Rente vorlegten. Zumindest müsse eine Einigung möglich sein, dass Ältere, die sich etwas zu ihrer Rente hinzuverdienen wollen, nicht mehr durch bürokratische und enge Hinzuverdienstgrenzen daran gehindert würden. „Die Hinzuverdienstgrenzen bei Renten sollten grundsätzlich abgeschafft werden“, sagte Kramer. „Es muss in der Regel möglich sein, dass ein Rentner eine Arbeit aufnimmt, ohne dass ihm deshalb die Rente gekürzt wird.“

          Gewerkschaften haben eigene Pläne im Kopf

          Bisher besteht diese Möglichkeit nur nach Erreichen des regulären Ruhestandalters. Dagegen ist praktisch nicht vorgesehen, dass Arbeitnehmer eine vorgezogene Teilrente mit einer größeren Teilzeitarbeit verbinden, obwohl dies bisweilen ein Weg wären, um ältere Fachkräfte bei verringerter Arbeitszeit länger im Beruf zu halten. Die Gewerkschaften sind dafür im Grundsatz aufgeschlossen, haben aber nebenbei auch ganz andere Ziele im Kopf, allen voran eine allgemeine Erhöhung des gesetzlichen Rentenniveaus – auch um den Preis, dass der Rentenversicherungsbeitrag dann schneller und stärker steigen müsste als bisher absehbar.

          Daneben enthält der Koalitionsvertrag von Union und SPD noch eine Verabredung zur Einführung einer „solidarischen Lebensleistungsrente“, mit der die Rentenansprüche von Versicherten mit geringer Beitragszahlung aufgestockt werden sollen. Das Projekt, das drohende Altersarmut abmildern soll, war wegen des großen Gesetzespakets aus Rente mit 63 und höherer Mütterrente zunächst liegengeblieben. Ein großes Problem besteht freilich darin, dass die Rentenversicherung keine verlässlichen Daten darüber hat, welche Rentner wirklich bedürftig sind – andernfalls würden etwa auch die Renten wohlhabender Witwen mit geringer eigener Erwerbstätigkeit aufgestockt. Eine Bedarfsprüfung gibt es indes schon bei der Grundsicherung im Alter, die bisher als Auffangsystem gegen Altersarmut dient.

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