Überalterung in China : Rotes Rentnerheer
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Li Shufeng ist 89 Jahre alt und hat den Angriff der Japaner auf die damalige Hauptstadt Nanjing überlebt. Hier besucht sie die Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag. Bild: dpa
Verstädterung und Überalterung treffen Chinas Dörfer mit voller Wucht. Die jungen Leute wandern ab, für die alten sichert die Rente nicht einmal das Existenzminimum. Schuld daran ist auch die Einkindpolitik.
Die Bäuerin Wang Zongtai hat ihr Leben lang in den Bergen gearbeitet, sie sieht älter aus als 58 Jahre. Auf einer Fläche von drei Mu, rund 2000 Quadratmetern, baute sie früher Mais und Weizen an, vor allem für den eigenen Bedarf. Ihr Mann Shi Fengying brachte als Tagelöhner etwa 500 Yuan (60 Euro) im Monat mit nach Hause, sie selbst verdiente ebenso viel durch den Verkauf von Bildbänden an Touristen. Dazu musste sie jeden Tag den Hügel hinter ihrem Bauernhaus hinaufsteigen. Dort liegt die Chinesische Mauer, eine der zugkräftigsten Attraktionen für den Fremdenverkehr. „Damals ging es uns ganz gut“, sagt Wang, „in der neuen Zeit wird es immer schwieriger.“
Die „neue Zeit“ hat der wettergegerbten Frau gleich mehrere einschneidende Veränderungen gebracht. Ihr Haus in dem Dorf Simatai, 120 Kilometer nordöstlich von Peking, wurde abgerissen, obwohl es seit Generationen im Besitz der Familie war. Die Gemeindeverwaltung hat vor zweieinhalb Jahren alle Einwohner umgesiedelt, um Platz für ein Urlaubs-, Sport- und Tagungsgelände zu schaffen. Auch das Ackerland musste die Familie aufgeben. Dafür erhielt sie eine Abfindung und ein großzügiges Einfamilienhaus in der Retorten-Stadt Neu-Simatai etwas abseits vom alten Standort. Die neue Unterkunft verfügt über moderne Badezimmer mit heißen Duschen, Wassertoiletten, Heizung und Klimaanlage und sogar kabellosen Internetempfang. „Das ist alles toll, aber wir können kaum die monatlichen Kosten aufbringen“, klagt Wang.
„Wie soll die Rente reichen?“
Das hat auch etwas mit der zweiten Veränderung in ihrem Leben zu tun: Seit dem Umzug gilt Wang offiziell als Rentnerin. Auf dem Land im Großraum Peking müssen Frauen mit 55 Jahren in den Ruhestand gehen und dürfen dann nicht mehr arbeiten, Männer mit 60. Wang erhält 275 Yuan (33 Euro) Rente im Monat, eine ähnliche Summe erwartet ihr Mann, wenn er 2013 empfangsberechtigt wird. „Das ist nur halb so viel wie früher, wie soll das reichen?“ fragt er. Im alten Haus hätten sie alles selbst repariert, geheizt wurde mit Holz, gegessen meist das, was das eigene Feld oder der Hühnerstall hergab. „Damals hatten wir mehr Geld als heute, brauchten aber weniger“, sagt der hagere Mann und schüttelt den Kopf.
Das Schicksal der Familie zeigt, wie schnell und umfassend sich die chinesische Gesellschaft verändert. Das gilt für die Verstädterung in ähnlicher Weise wie für die Überalterung, wobei beides miteinander verzahnt ist. Jedes Jahr ziehen 11 bis 20 Millionen Menschen vom Land in die Stadt, das sind mehr, als in Portugal oder Griechenland leben. Seit 2011 wohnt erstmals in der Geschichte Chinas eine Mehrheit in urbanen Zentren. Nach Berechnungen der Weltbank wird dieser Anteil bis 2030 auf 70 Prozent steigen. Schon heute gibt es in China 160 Millionenstädte, mehr als doppelt so viele wie in Europa und Amerika zusammen. Bis 2030 könnten es 230 werden. Gerade hat Chinas neue Führung beschlossen, die Urbanisierung noch zu beschleunigen, um den Binnenkonsum anzukurbeln und unabhängiger vom Export zu werden.