Tarifrecht : Das Ende einer Illusion
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Ein Eckstein der Rechtsprechung zum Tarifrecht wurde als Fehlkostruktion erkannt: Auch von Gewerksschaftseite. Die Siemens-40-Stunden-Woche und das Bundesarbeitsgericht.
Die Siemens AG hat mit dem Vorstand der IG Metall eine spektakuläre "Rahmenvereinbarung zur Standortsicherung" getroffen. In den Werken Kamp-Lintfort und Bocholt mit zusammen 4000 Beschäftigten wird statt der bisher geltenden 35-Stunden-Woche die 40-Stunden-Woche wieder eingeführt, ohne Lohnausgleich. Zusätzlich entfallen das Urlaubs- und das Weihnachtsgeld. Die Arbeitnehmer erhalten statt dessen eine erfolgsabhängige, im Vergleich aber niedrigere Jahreszahlung.
Durch das Gesamtpaket werden die Arbeitskosten nach Angaben des Konzerns erheblich gesenkt. Im Gegenzug gibt das Unternehmen für die beiden von einer Produktionsverlagerung nach Ungarn bedrohten Werke eine Standortgarantie für zwei Jahre. In der Rahmenvereinbarung, die für alle 105 deutschen Standorte gilt, sind für den Bedarfsfall weitere Vereinbarungen über Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich an anderen Standorten vorgesehen.
Güstigkeitsprinzip
Die Vereinbarung hat eine breite Diskussion über die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich ausgelöst. Unbeachtet blieb bisher, daß mit diesem Vertrag zwischen Siemens und dem IG-Metall-Vorstand zugleich ein Eckstein der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Tarifrecht von der Tarifpraxis einer führenden Gewerkschaft als Fehlkonstruktion erkannt worden ist.
Es geht um das sogenannte Günstigkeitsprinzip. Danach können tarifliche Vereinbarungen jederzeit durch solche Abmachungen abgelöst werden, die für die Arbeitnehmer günstiger sind (Paragraph 4 Abs. 3 Tarifvertragsgesetz). Was jetzt bei Siemens vereinbart wurde, war Jahre zuvor in vielen Unternehmen praktiziert worden, nämlich die Sicherung von Arbeitsplätzen durch die Senkung von Arbeitskosten unter das Niveau des Flächentarifs. Die bekannten Streitfälle "Viessmann" und "Burda" zeigten exemplarisch, daß Belegschaften und Betriebsräte eine Unterschreitung des geltenden Flächentarifs oft als günstiger ansahen, wenn sie dafür eine befristete Arbeitsplatz- und Standortgarantie durch den vereinbarten Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen einhandeln konnten.
Wurmstichiges Fallobst?
Das Bundesarbeitsgericht entschied am 20. April 1999 im Fall "Burda", die Zusage einer mehrjährigen Beschäftigungsgarantie durch den Arbeitgeber als Ausgleich für eine Heraufsetzung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 39 Stunden könne bei der Frage, welche Vereinbarung für die Arbeitnehmer günstiger sei, nicht berücksichtigt werden. Denn der Vergleich von Beschäftigungsgarantien mit materiellen Arbeitsbedingungen sei so verfehlt wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen. In der Wirtschaftswissenschaft hat diese Entscheidung lebhaften Widerspruch gefunden. Einer der fünf Wirtschaftsweisen bezeichnete sie als wurmstichiges Fallobst.
In der Sache geht es um die Frage, wer befugt ist, darüber zu entscheiden, ob die Arbeitsplatzerhaltung den Vorrang haben soll vor der starren Durchsetzung des Flächentarifs. Es geht also um eine Machtfrage. Sind die Belegschaften und ihre Betriebsräte fähig und mündig, über das Schicksal ihrer Arbeitsplätze und Standorte eigenverantwortlich zu entscheiden oder stehen sie, trotz des Günstigkeitsprinzips, insoweit unter der Vormundschaft der Tarifparteien? Die Entscheidung hatte weitreichende und verhängnisvolle Folgen am Arbeitsmarkt, vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen.
Kein Zweifel mehr
Mit der Vereinbarung zwischen Siemens und dem IG-Metall-Vorstand ist klar, daß an der tarifrechtlichen und tarifpolitischen Vergleichbarkeit von Arbeitsplatzsicherheit und Beschäftigungsgarantie kein Zweifel mehr bestehen kann. Es war von Anfang an unverständlich, daß die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze als ein Günstigkeitsmerkmal für die Arbeitnehmer ausgeschlossen sein sollte. Der "Äpfel und Birnen"-Irrtum des BAG ist durch die neue Praxis der IG Metall aufgedeckt worden und nicht mehr zu wiederholen.