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Neues Ausbildungsjahr : „70.000 Lehrstellen werden unbesetzt bleiben“

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„Uns fehlen 1,4 Millionen Facharbeiter“, sagt Eric Schweitzer. Bild: Pein, Andreas

Im neuen Ausbildungsjahr werden der deutschen Wirtschaft wieder Zehntausende Bewerber fehlen. Eric Schweitzer, Chef der deutschen Industrie- und Handelskammern, spricht von einer Lehrlingslücke, die über Änderungen im Bildungssystem geschlossen werden könnte.

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          Herr Schweitzer, Sie sind promovierter Betriebswirt und führen die Entsorgungsfirma Alba. Könnten Sie sich vorstellen, dass Ihre beiden Kinder am Band stehen und Müll sortieren?

          Das haben beide schon gemacht, während der Schulferien.

          Und hauptberuflich?

          Wenn sie finden sollten, es ist das Richtige für sie: Warum nicht?

          Ist Deutschland ein Land, in dem Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken gerecht verteilt sind?

          Ich glaube schon, dass wir bei der Chancengerechtigkeit ein gutes Stück weitergekommen sind. Wir müssen aber am Thema dranbleiben - gerade mit Blick auf die demographische Entwicklung und den drohenden Fachkräftemangel.

          Früher hat eine breite Mehrheit der Deutschen gesagt: Wer sich anstrengt, der schafft es auch nach oben. Heute sind sich die Leute nicht mehr sicher. Irren sie?

          Schauen Sie sich die geringe Arbeitslosenquote hierzulande an. Bei uns hat jeder Jugendliche die Chance, einen Beruf zu erlernen. Das verdanken wir der dualen Berufsausbildung, die es in anderen Ländern, etwa in Südeuropa, so nicht gibt. Dort gehen die Jugendlichen meist zur Hochschule, oder sie beginnen ungelernt einen Job.

          Bis vor kurzem hieß es, Deutschland hat im internationalen Vergleich viel zu wenig Hochschulabsolventen. War das falsch?

          Das ist eine Chimäre. Noch vor wenigen Jahren wurden wir von internationalen Organisationen für unser Ausbildungssystem kritisiert. Es galt als veraltet, genau wie der Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt. Jetzt heißt es auf einmal, wir brauchen diese duale Ausbildung in anderen Ländern auch.

          Voriges Jahr blieben 70.000 Lehrstellen unbesetzt. Ganz so attraktiv scheint das Modell aus Sicht der Schulabgänger nicht zu sein.

          Hauptursache ist, dass wir in Deutschland immer weniger Schulabgänger haben. Aber es stimmt: Für das Ausbildungsmodell, das die ganze Welt jetzt gut findet, müssen wir auch im eigenen Land immer wieder werben.

          Sie wollen die Leute von der Uni weglocken?

          Ich sage es mal so: Wir müssen den jungen Menschen klarmachen, dass das berufliche Glück nicht allein an einem Studium hängt. Es stimmt nicht, dass man ohne den Besuch einer Hochschule im Leben nichts werden kann. Früher galt: Mach erst mal eine ordentliche Lehre, dann kannst du immer noch an die Hochschule gehen. Das ist auch heute nicht falsch - zumal, wenn man sich die hohe Zahl von Studienabbrechern ansieht. Es hilft nichts, einen jungen Menschen zu überfordern.

          Es heißt doch immer, wir haben zu wenig studierte Ingenieure?

          Das stimmt auch. Aber Sie müssen die Zahlen ins Verhältnis setzen: In den technischen Bereichen fehlen uns bis zum Jahr 2020 rund 150.000 Akademiker, aber sage und schreibe 1,4 Millionen Facharbeiter. Wir brauchen die richtige Mischung.

          Wie viele Ausbildungsplätze bleiben dieses Jahr denn leer?

          Es werden wohl wieder um die 70.000 unbesetzte Lehrstellen sein. Wir haben das Glück, dass durch die Schulzeitverkürzung in Hessen und Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr zwei Abiturjahrgänge gleichzeitig auf den Ausbildungsmarkt kommen. Ab 2014 werden die Bewerberzahlen stark abnehmen. Wenn wir nichts tun, fehlen uns schon in zwölf Jahren sechs Millionen Arbeitskräfte. Diese Frage ist genauso zentral wie die Energiewende, über die derzeit so viel diskutiert wird.

          Kann man jetzt schon von einer Lehrlingslücke sprechen?

          Und ob! Die unbesetzten Ausbildungsplätze sind ein echtes Problem. Das liegt auch an falschen Prioritäten. Viele wollen zum Beispiel Friseur oder Mechatroniker werden, weil sie die Berufe kennen. Um die Schüler mit weiteren Berufsbildern vertraut zu machen, engagieren wir uns für Partnerschaften zwischen Betrieben und Schulen.

          Daran hapert es?

          Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Neulich meldete sich die Tochter eines Bekannten, die bei uns in der Firma ein Praktikum machen wollte - aber bitte nur sechs Stunden an drei Tagen pro Woche, sie habe ja noch andere Verpflichtungen. Da habe ich gesagt: Ganz oder gar nicht, sonst ist es nicht das reale Leben. Sie hat dann auf das Praktikum verzichtet.

          Wollen Sie damit sagen, die Jungen sind Weicheier?

          Überhaupt nicht. Auch meine Eltern haben schon zu mir gesagt: Was soll aus eurer Generation bloß werden? Ihr könnt ja gar nicht richtig arbeiten. Die heutige Generation ist nicht besser oder schlechter als andere.

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