Priester Martin Rhonheimer : „Barmherzigkeit schafft keinen Wohlstand“
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Martin Rhonheimer: „Ich würde niemals behaupten, Sozialdemokraten seien die schlechteren Christen. Ich würde nur sagen, sie sind im Irrtum.“ Bild: Frank Röth
Martin Rhonheimer liebt den Papst – und den Neoliberalismus. Kirchensteuern will er abschaffen, von staatlich organisierter Caritas hält er nichts. Wie passt das zum Christentum?
Er stammt aus einer großbürgerlich jüdischen Familie in Zürich und konvertierte mit sieben Jahren zum Katholizismus. Später studierte Rhonheimer Theologie und wandte sich während der Finanzkrise auch ökonomischen Themen zu.
„Diese Wirtschaft tötet“, verkündet Papst Franziskus. Er polemisiert gegen die Reichen und stellt sich auf die Seite der Armen. Herr Rhonheimer, was halten Sie als Priester der katholischen Kirche von dieser Position Ihres Oberhauptes?
Als Priester verstehe ich die Sorge der Kirche um die Armen; das hat eine lange Tradition. Als Philosoph und Ökonom kann ich aber die Lösungsansätze des Papstes hier nicht nachvollziehen. Wozu Franziskus aufruft, soll den Armen helfen. Aber in Wirklichkeit hilft es den Armen nicht, sondern verschlimmert ihre Situation nur noch.
Wie kommt der Papst zu seiner Behauptung?
Man muss das verstehen aufgrund seiner Erfahrungen in Argentinien, dem Land, aus dem der Papst stammt. Dort hält man den Liberalismus für eine Quelle von Klientelismus und Korruption, die den Staat heruntergewirtschaftet haben. Franziskus hatte Sympathien mit dem Peronismus und den Wohltätigkeitsaktionen von Evita. Da gab es die populäre Vorstellung, Armut sei eine böse Folge des Reichtums der Reichen, und die Reichen müssten deshalb ihren Reichtum mit den Armen teilen.
Aber der Papst verdammt den Kapitalismus generell, nicht nur den in Argentinien.
Er trägt eine argentinische Brille, mit der er auf den Kapitalismus nach der schweren Finanzkrise blickt, und wendet sich gegen Märkte, die außer Rand und Band geraten sind.
Hat er recht?
Nein, ich halte das für eine Fehlanalyse. Aus meiner Sicht sind Kapitalismus und Marktwirtschaft die Quellen des Wohlstandes. Sie töten nicht, sondern machen frei und schaffen Wohlstand.
Sie stellen sich gegen den Papst?
Nein, ganz und gar nicht. Ich kreide dem Papst auch seine Analysen nicht an, weil er als Papst für solche ökonomischen Analysen gar nicht zuständig ist.
Aber der Papst kann von den Antikapitalisten dieser Welt als Autorität in Anspruch genommen werden.
Das ist in der Tat ein Problem. Er bietet für viele die willkommene Gelegenheit, mit Berufung auf ihn die Marktwirtschaft zu verteufeln.
Und er sagt doch auch gar nichts Überraschendes. Dass diese Wirtschaft tötet, ist von jeder zweiten Kanzel am Sonntag zu hören. Und erst recht in der heutigen katholischen Soziallehre.
Das ist mir zu pauschal. Aber Sie haben ein bisschen recht: Es gibt eine Neigung der katholischen Soziallehre, sehr schnell auf Distanz zur Marktwirtschaft zu gehen. Da herrscht dann die Vorstellung, verantwortlich für die Schaffung von Arbeit seien die Regierungen, und es sei nicht der Markt.
Dass der Papst wirklich eine Vorstellung davon hat, was freies Unternehmertum leisten kann, bezweifle ich.
Die Kirche hatte noch nie ein positives Verhältnis zum Unternehmer. Man ehrt den heiligen Martin, der seinen Mantel teilt und den Mangel verwaltet, aber nicht den Mantelfabrikanten.
Mit Caritas allein lässt sich in der Tat kein Wohlstand schaffen - hier helfen nur Unternehmertum und freie Märkte. Der Papst sieht nicht, dass Gewinnstreben an sich gut ist und in einer freien und rechtlich geordneten Marktwirtschaft Wohlstand für alle schafft.
Franziskus, ein Bettelmönch im Mittelalter, nach dem der heutige Papst sich genannt hat, verachtet die Reichen und gründet eine Armutsbewegung, die die Armut gar nicht überwinden will.
Das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Franziskus ist auch der Patron der Kaufleute. Die Franziskanermönche haben Banken gegründet und Kredite an Bedürftige gegen Zinsen vergeben. Franziskaner waren immer auch erfolgreiche Immobilienbesitzer und Immobilienverwalter in der Kirchengeschichte.
In der Bibel steht davon nichts. Da steht, wer Jesus nachfolgen will, soll seinen Besitz hergeben, und die Reichen kommen so wenig in den Himmel, wie es ein Kamel durch ein Nadelöhr schafft.
Sie verabsolutieren wieder. Es gibt eben auch eine andere christliche Tradition, die das nicht so einseitig interpretiert. Schon in der antiken Kirche heißt es, Reiche seien wichtig. Denn wenn es keinen Reichtum gibt, dann gibt es auch keine Almosen.
Die Armen sind für die Christen näher an Gott als die Reichen. Christentum, sagt Nietzsche, ist das Ressentiment derer, die in der Welt zu kurz gekommen sind und die sich jetzt rächen, indem sie den Reichen ein schlechtes Gewissen machen und ihnen den Spaß am Konsum verderben.
Das ist historisch nicht korrekt. Der Reichtum der Reichen war in der Antike unglaublich groß, alle anderen waren arm. Da kann man schon verstehen, dass man vor allem auf die richtige Verwendung des Reichtums durch Almosengeben bestand. Erst mit der industriellen Revolution begann der Prozess der Entstehung von Massenwohlstand, durch unternehmerische Wertschöpfung, Schaffung von Arbeit und Steigerung der Produktivität. Angesichts des Elends der Arbeitermassen im 19. Jahrhundert war es sicher die Aufgabe der Kirche, Not zu lindern. Da nützte es wenig, zu sagen, langfristig werde das Wachstum den Wohlstand steigern. Aber zugleich haben die Päpste es auch als einen Wahn bezeichnet, zu meinen, dass alle gleich sein sollen. Zumindest im 19. Jahrhundert gab es in der Kirche noch ein Freiheitsbewusstsein, das vor einem umverteilenden Staat warnte, das Eigentum für unantastbar erklärte und das private Unternehmertum lobte.
Aber später ist die Kirche doch immer staatsgläubiger geworden. Womit hängt das zusammen?
Nach dem Ersten Weltkrieg machte sich die katholische Soziallehre den sogenannten Solidarismus als eine Mitte zwischen Individualismus und Sozialismus zu eigen und verließ allmählich die staatskritische und freiheitsliebende Linie des 19. Jahrhunderts. Angesichts der Unzulänglichkeit privater Nächstenliebe und Solidarität und einer Fehlanalyse der Ursachen der Weltwirtschaftskrise wollte man im Staat den einzig möglichen Retter erkennen. Jetzt hieß es, staatlich veranstaltete „soziale Gerechtigkeit“ und die „soziale Liebe“ seien das regulative Prinzip der Wirtschaft und nicht Wettbewerb und Markt. Das spukt heute immer noch in den Köpfen vieler Kirchenleute und Theologen herum.
Wie ging es dann weiter?
Irgendwie hatte die Kirche dann den Eindruck gewonnen, sie müsse eine eigene Soziallehre entwickeln. Weil das Evangelium dafür aber keine eindeutigen Vorgaben enthält, blieb die katholische Soziallehre stets ein Kind der Zeit, mehr oder weniger distanzlos an den Zeitgeist gebunden.
Sie meinen, es sei gar nicht Aufgabe der Kirche, eine Soziallehre aufzustellen.
Ja, dieser Ansicht bin ich. Jeder einzelne Christ hat natürlich eine soziale Verantwortung, und dazu sollen Papst und Bischöfe die Gläubigen immer wieder aufrufen. Die Aufgabe des kirchlichen Lehramtes ist es, den offenbarten Glauben auszulegen, weiterzutragen und vor Verfälschungen zu bewahren. In Fragen der Soziallehre gibt es aber nichts weiterzutragen, was über einige Grundprinzipien hinausführt.
Welche Prinzipien meinen Sie?
Der Staat führt zu Recht das Schwert, so steht es im Römerbrief. Modern gesagt: Er besitzt das Gewaltmonopol, hat für die Durchsetzung des Rechts, den Schutz des Lebens und das friedliche Zusammenleben der Bürger zu sorgen. Und das Privateigentum zu schützen. Damit schützt er auch die Familie. Über andere Aufgaben des Staates hinsichtlich wirtschaftlicher und sozialer Fragen finden Sie nichts in der christlichen Offenbarung. Theologische Positionen über die Gnadenlehre oder die Dreieinigkeit können Sie immer in Verbindung bringen mit der Heiligen Schrift und der Tradition. Da können Sie auch immer theologisch beurteilen, was mit dem Glauben vereinbar ist und was nicht. Bei der Frage nach der Wirtschaftsordnung und worin soziale Gerechtigkeit besteht, geht das nicht.
Es heißt immer, das Subsidiaritätsprinzip als Gegenmittel gegen jeden Zentralismus sei ein originäres Prinzip der Christlichen Soziallehre.
Aber das ist auch wieder nur ein formales Prinzip, das, wenn es konkret wird, auf ganz verschiedene Weise interpretiert wird.
Sie selbst sind ein Freund des Liberalismus und der Freiheit. Aber darauf würden Sie nicht jeden Christen verpflichten?
Keinesfalls. Die Kirche muss uns nicht alles lehren. Katholische Christen können in Fragen, die nicht den Glauben und die katholische Moral betreffen, sondern die praktische Welt- und Wirtschaftsordnung, durchaus unterschiedlicher Auffassung sein. Sie dürfen nicht der Versuchung verfallen, von ihren Hirten dafür Orientierung zu verlangen. Ich würde niemals behaupten, Sozialdemokraten seien die schlechteren Christen. Ich würde nur sagen, sie sind im Irrtum. Wer in Mathematik einen Fehler macht, irrt. Aber er ist deswegen kein böser Mensch oder schlechter Christ.
Und was halten Sie von der organisierten Soziallehre der Kirche bei Caritas & Co.?
Dass die Kirche als Kirche barmherzig ist, ist eine alte Tradition. Da wurde das ganze Krankenhauswesen erfunden, und es wurde Gewaltiges für die Menschheit geleistet. Aber inzwischen haben wir ein Sozialstaatskirchensystem bekommen, weil sich die Kirche in die Strukturen des umverteilenden Steuer- und Sozialstaates derart eingebunden hat, dass sie nicht mehr frei ist, ein System in Frage zu stellen, das zum Beispiel dem Subsidiaritätsprinzip eklatant widerspricht und ökonomisch falsche Anreize setzt.
Caritas darf nicht mit Steuergeldern finanziert werden?
Barmherzigkeit kann nicht mit Zwangsmaßnahmen realisiert werden. Christliche Nächstenliebe organisieren andere Länder besser, wenn die Kirchen es selbst in die Hand nehmen, wie zum Beispiel in den Vereinigten Staaten.
Sie sind auch gegen das staatlich organisierte Kirchensteuersystem?
Ja, ich finde es zumindest sehr problematisch. Ich sehe eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem heutigen steuerfinanzierten Sozialstaatskirchensystem und dem Reichskirchensystem des Frühmittelalters. Da wird die Kirche integriert in staatliche Strukturen, was sie von diesen abhängig macht und verweltlicht. Es muss aus meiner Sicht wieder mehr gelebtes Christentum geben und weniger Staatskirche und Staat. Papst Benedikt XVI. hat völlig zu Recht von der Notwendigkeit einer „Entweltlichung“ der Kirche gesprochen.
Ist das nicht völlig utopisch?
Stimmt. Man kann nicht von heute auf morgen ein entwickeltes Sozialsystem völlig umdrehen. Es fehlen auch die Mentalitäten, die das braucht. Aber ich fürchte, dass unser schuldenbasiertes Sozialsystem auf mittlere Sicht an die Wand gefahren wird - spätestens dann werden wir neue Lösungen brauchen.
Wie bekommen Sie persönlich Ihre marktliberale Freiheitsphilosophie und Ökonomie zusammen mit Ihrer Zugehörigkeit zum Opus Dei, einer strikt autoritären Gemeinschaft innerhalb der katholischen Kirche?
Über das Opus Dei kursieren viele falsche Vorstellungen. Ihre Vermutung, das sei eine autoritäre Institution, gehört dazu. Wir haben beim Opus Dei eine große Freiheitsliebe. Und wir wissen auch, dass bei Fragen von Politik und Wirtschaft jeder denken kann, was er will, im Rahmen dessen, was die Kirche für alle Katholiken verpflichtend lehrt.
Sie müssen dem Papst absolut gehorsam sein.
Na ja, vielleicht hat der Gründer des Opus Dei noch nicht daran gedacht, dass eines Tages ein Papst sich ganz konkret zu Emissionszertifikaten und ähnlichen Finanzprodukten äußert (lacht). Wir sind beim Opus Dei sehr papsttreu, auch hierarchisch gegliedert, aber nicht autoritär. Was ich denke und lehre, darüber diskutiere ich auch mit meinen kirchlichen Vorgesetzten. Dass sie mir für meine Tätigkeit grünes Licht gegeben haben und sie respektieren, heißt nicht, dass sie alle meine Ansichten teilen. Wir lieben die Vielfalt innerhalb der Einheit des Glaubens.
Also kann man als Christ auch ein Hardcore-Neoliberaler sein?
Aber ja. Es ist nur nicht so verbreitet.
Das Gespräch führte Rainer Hank.
Martin Rhonheimer: Ein ungewöhnliches Priesterleben
Martin Rhonheimer, 66, stammt aus einer großbürgerlichen Familie in Zürich. Der Vater ist Jude, arbeitet als Textilhändler und beliefert Pariser Couturiers wie Yves Saint Laurent mit Seide. Vater Rhonheimer lässt seine Söhne beschneiden; religiös erzogen werden sie nicht. Mit sieben Jahren konvertiert Rhonheimer zum Katholizismus. Er besucht das Benediktiner-Kollegium Sarnen und studiert Geschichte und Philosophie in Zürich. Die Achtundsechzigerzeit politisiert ihn - „rechts, konservativ, antimarxistisch“. In Zürich wird er Assistent des Philosophen Hermann Lübbe. 1974 tritt er in die papsttreue Organisation Opus Dei ein, studiert Theologie, wird Priester. Seit 1990 ist er Professor für Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. In der Finanzkrise wendet er sich ökonomischen Themen zu, liest Hayek, Mises & Co. In Wien gründet er das Austrian Institute of Economics and Social Philosophy: Er will zeigen, dass freie Märkte nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus philosophischen Gründen dem Staat überlegen sind.