
Kommentar : Hütet euch vor der Diktatur der Mehrheit!
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Der türkische Präsident Erdogan beruft sich mit seinem Gebaren auf das Volk – seine Partei hat die Mehrheit. Doch gerade dieser Schluss ist gefährlich, nicht nur in der Türkei.
Demokratie ist gefährlich. Vor allem dann, wenn sie sich zu verabsolutieren sucht. Staatliche Macht, auch und gerade wenn sie sich demokratisch legitimiert, verführt zu Machtmissbrauch. Deshalb braucht die Demokratie eine Begrenzung, die ihr vorgeordnet ist und gerade nicht demokratisch legitimiert sein kann. Dieses nötige Gegengewicht zur Demokratie nennen wir Rechtsstaat. Die Unterscheidung zwischen Rechtsstaat und Demokratie ist höchst relevant; leider werden die beiden Begriffe von vielen Menschen inzwischen fast wie Synonyme gebraucht.
Dass dies alles mehr ist als die Einleitung der Seminararbeit fürs verfassungsrechtliche Proseminar, lässt sich derzeit in Polen, Ungarn, den Vereinigten Staaten oder der Türkei studieren. Da kommt einiges zusammen. Nehmen wir Polen. Dort hat das Parlament in einer gespenstischen Sitzung in der vergangenen Woche, angeleitet vom nationalkonservativen Revolutionsführer Jaroslaw Kaczynski, ein Gesetz beschlossen, wonach die obersten Richter des Landes in den Ruhestand geschickt werden sollen und neue Richter künftig vom Parlament bestimmt werden.
Erdogan beruft sich auf das Volk
Das ist zweifellos eine Säuberung der Gerichte ungeheuren Ausmaßes. Doch Kaczynski hat nicht völlig unrecht, wenn er behauptet, dass der Gewaltakt des Parlaments keine Bedrohung der Demokratie, sondern deren Rettung sei, weil die ordentlich gewählten Volksvertreter mit Mehrheit der Meinung sind, der gesamte Justizapparat des Landes sei kommunistisch verseucht. Die Argumentation bleibt schlüssig, gerade auch dann, wenn man ihren Inhalt für Unsinn hält.
Einen Beschluss eines Parlaments kann man nicht einfach deshalb als undemokratisch bezeichnen, weil einem der Inhalt oder die handelnden Akteure nicht passen. Genauso werden aus Demokraten nicht dadurch Undemokraten, dass man sie Populisten schilt.
Auch Recep Tayyip Erdogan beruft sich auf das Volk. Zuletzt wurde seine Partei mit 52 Prozent der Wählerstimmen bestätigt. Das ist eine satte Mehrheit, die er als Ermächtigung zur Selbstermächtigung versteht und daraus das Recht zur brutalen Unterdrückung der Opposition ableitet. Seinen immer rüder werdenden Ton gegenüber Deutschland nutzt Erdogan dazu, sich der Loyalität seiner Anhänger zu vergewissern. Das vergiftet die internationalen Beziehungen, tritt Menschenrechte mit Füßen und unterdrückt die Freiheit. Aber verletzt es auch die Regeln der Demokratie?
Es ist Zeit, an eine kritische Errungenschaft der Aufklärung zu erinnern, wonach Mehrheits- und Volksentscheidungen nicht alles und jedes rechtfertigen, wiewohl sie demokratisch sauber sind. Der Liberalismus hat stets auf der Beschränkung der Macht und der Bindung des Gesetzgebers an Regeln insistiert.
Alle Macht geht in einer Demokratie vom Volk aus. Das bedeutet nicht, dass die Macht der Majorität der Volksvertreter keinerlei Beschränkungen unterliegt. Die herrschende Meinung, dass die Einführung demokratischer Verfahren alle Beschränkung staatlicher Macht entbehrlich mache, nannte der österreichische Ökonom Friedrich A. von Hayek eine „tragische Illusion“.
Schutz für Minderheiten
Wie recht er hat, sieht man derzeit in Polen, wo Demokraten die Justiz kapern, in Ungarn, wo Demokraten die Wissenschaft kujonieren, und in der Türkei, wo Demokraten die Menschenrechte mit Füßen treten. Auch Donald Trump in Amerika träumt von unbeschränkter Macht; aber der Rechtsstaat dort hält (noch) besser als in (Ost-) Europa.
Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Vor dieser Verführung sind auch dogmatische Mehrheitsdemokraten nicht gefeit. Gewaltenteilung belehrt Demokraten, dass ihre Macht Grenzen hat. Die Beschränkung der Demokratie schützt die Freiheitsrechte von Minderheiten. Verkommt der Rechtsstaat, verarmen die Menschen – auch wirtschaftlich. Vor Demokraten, die es mit der Demokratie übertreiben, muss man sich hüten.