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Kommentar : Was den Mindestlohn gefährlich macht

Im Gastgewerbe arbeiten besonders viele zum Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro. Bild: dpa

Auf der Suche nach neuer Verteilungsmasse hat die Lobby der Sozialverbände die Lohnpolitik entdeckt. Die Forderungen gehen jedoch deutlich an der Realität vorbei.

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          Darf es vielleicht noch etwas mehr sein? 9 Euro, 10 Euro oder lieber doch 12,50 Euro je Stunde? Oder warum eigentlich nicht gleich 15 oder 20 Euro? Die jüngsten Diskussionsbeiträge von Sozialverbänden, Oppositionsparteien und einigen Gewerkschaftsführern zur künftigen Höhe des gesetzlichen Mindestlohns belegen anschaulich, welche Gefahren die Bundesregierung durch die Einführung dieses Instruments heraufbeschworen hat.

          Lohnpolitik wird damit von interessierter Seite zum billigen Hilfsinstrument einer Sozialpolitik umgedeutet, deren unersättlicher Finanzbedarf die Leistungsfähigkeit der Steuer- und Beitragszahler allmählich überschreitet. Verschärfte Eingriffe in die Lohnfindung und -verteilung sollen ausgleichen, dass sich die sozialpolitische Umverteilungsmasse auf den gewohnten Wegen nicht mehr im erwünschten Ausmaß steigern lässt. Die Freiheitsrechte der Privat- und Tarifautonomie stehen dabei als lästige Hindernisse im Weg.

          Eine solche Sichtweise ist zwar bisher nicht die Mehrheitsmeinung, auch nicht unter Gewerkschaftern. Sie breitet sich aber aus - umso mehr, je häufiger über den Mindestlohn so diskutiert wird, als habe sich seine Höhe allein nach sozialpolitischen Wunschvorstellungen zu richten. In diese Abteilung gehören auch oberschlaue Berechnungen, wonach der Mindestlohn mindestens 11,50 Euro betragen müsse, damit Arbeitnehmer nach 45 Beitragsjahren genügend Rente hätten. Wo, bitte, bleibt hier der Anspruch eines beruflichen Aufstiegs, der Menschen davor schützt, 45 Jahre lang zum Mindestlohn zu arbeiten? (Und vor Arbeitslosigkeit nebenbei auch.)

          Der Sozialstaat muss effizienter werden

          Bevor die von der Regierung eingesetzte neue Kommission am 28. Juni ihre Entscheidung über die erste Mindestlohnerhöhung trifft, darf man einmal daran erinnern, dass das deutsche Sozialbudget - die Summe aller Mittel, die der Staat hierzulande in soziale Zwecke lenkt - inzwischen 850 Milliarden Euro pro Jahr beträgt; allein in den vergangenen fünf Jahren ist es um 100 Milliarden Euro gewachsen. Ein Großteil wird über Sozialbeiträge und Steuern aufgebracht, die die verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer schmälern. Wer ständig über wachsende Gerechtigkeitslücken klagt, sollte auch einmal etwas dazu sagen, wie der Sozialstaat effizienter werden kann.

          Zu den Vorzügen einer Lohnfindung in privater Hand gehört, dass sie sich ebensolchen Effizienzfragen regelmäßig stellt. Die Verhandlungspartner von Arbeitsverträgen und, mit gewissen Abstrichen, auch die von Tarifverträgen stehen dafür ein, dass ihre Regelungen beiderseits Nutzen stiften und möglichst wenig Schaden anrichten. Eine Gewerkschaft, die Tarifverhandlungen führt, weiß um den drohenden Schaden für ihre eigenen Interessen und ihre eigene Mitgliederstärke, falls sie überzieht und Arbeitsplätze ihrer Mitglieder gefährdet. Die Sozialverbände, die eine beliebige Erhöhung des Mindestlohnes fordern, haften für die Folgen nicht.

          Auch die Mindestlohnkommission, der je drei Gewerkschafts- und Arbeitgebervertreter angehören, wird für Fehlentscheidungen nicht annähernd so zur Rechenschaft gezogen werden, wie das für Tarifpolitiker gilt, die dem in Wahlen errungenen Vertrauen ihrer Verbands- oder Gewerkschaftsmitglieder nicht gerecht werden. Umso wichtiger ist, dass sich die Kommission mit ihrer neuerdings vielbeachteten Geschäftsordnung zumindest eine Regelbindung vorgenommen hat. Sie hat beschlossen, ihre Entscheidungen im Regelfall an den amtlichen Tarifindex zu koppeln, also den Durchschnitt der regulären Tariferhöhungen im jeweiligen Betrachtungszeitraum.

          Ein Mindestmaß an Berechenbarkeit

          Auch diese Kopplung ist durchaus problematisch. Denn mit der Orientierung am Durchschnitt der Tarifabschlüsse wird der gesetzliche Mindestlohn unweigerlich stärker steigen als die Tariflöhne in schwächeren Branchen. Damit wird er bald in immer mehr Branchen die tariflichen Einstiegslöhne überholen und außer Kraft setzen; so etwa im Einzelhandel, der mit der Konkurrenz aus dem Internet ringt. Wie sich unter diesen Umständen wieder mehr Unternehmen für eine Mitwirkung am Flächentarif interessieren sollen, ist schleierhaft.

          Immerhin aber liefert die Bindung des Mindestlohns an den Tarifindex wenigstens ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und bietet einen gewissen Schutz davor, dass die Lohnfindung so politisiert wird, wie es sich verantwortungslose Sozialverbände erhoffen. Erfüllen kann das Regelwerk seine Aufgabe allerdings nur, wenn zumindest die Kommission es respektiert. Wenn selbst einzelne Gewerkschafter öffentlich dafür streiten, dass neben dem amtlichen Tarifindex noch dieses oder jenes in die Mindestlohnerhöhung einzurechnen sei, dann stellen sie damit im Ergebnis nicht nur die Regelbindung als solche in Frage, sondern mittelbar auch ihre eigene Tarifpolitik.

          Folgt die Kommission den beschlossenen Regeln, dann wird der Mindestlohn im ersten Schritt um gut drei Prozent auf rund 8,80 Euro steigen. Und wer diese Erhöhung an einem anerkannten Maßstab für das soziale Sicherungsniveau messen will, der nehme die Entwicklung der Lebenshaltungskosten: Die Verbraucherpreise haben sich seit Einführung des Mindestlohns im Januar 2015 - also in dem Zeitraum, den die Kommission nun betrachtet - um 0,5 Prozent erhöht.

          Dietrich Creutzburg
          Wirtschaftskorrespondent in Berlin.

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