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Kritik an TTIP : EU-Kommissar sieht „Attacke“ gegen Freihandelsabkommen

  • Aktualisiert am

Es gibt viel Protest gegen das Freihandelsabkommen. Bild: AP

Gegner des Freihandelsabkommens TTIP haben der EU-Kommission Kritik geschickt. Und zwar fast 100.000 Beiträge. Der zuständige Kommissar spricht von einer „regelrechten Attacke“.

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          Gegner des umstrittenen transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP haben die EU-Kommission mit kritischen Stellungnahmen überhäuft und das IT-System lahm gelegt. „Wir haben fast 100.000 Beiträge bekommen, viele davon identisch“, sagte EU-Handelskommissar Karel de Gucht der neuen Ausgabe der „Wirtschaftswoche“. „Das war eine regelrechte Attacke.“ De Gucht hatte im März eine öffentliche Konsultation zum Investitionsschutz bei TTIP begonnen.

          „Wir mussten die Befragung um eine Woche verlängern, weil das System dem Ansturm nicht gewachsen war“, so der Handelskommissar. „Dass so viele Beiträge identisch sind, spricht für eine konzertierte Aktion.“ De Gucht kündigte an, die Kommission werde die eingegangenen Beiträge untersuchen und mit dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten besprechen.

          Der Investitionsschutz gehört zu den umstrittensten Elementen von TTIP. Kritiker werfen der EU-Kommission vor, eine Paralleljustiz aufzubauen. Die EU-Kommission hält dagegen, dass Investitionsschutz heute schon umfangreich in bilateralen Handelsabkommen verankert ist und auf Völkerrecht basiert.

          Handelskommissar Karel de Gucht
          Handelskommissar Karel de Gucht : Bild: dpa

          Die Verhandlungen über TTIP hatten im Juli 2013 begonnen. Die Schaffung einer Freihandelszone soll der Wirtschaft auf beiden Seiten des Atlantiks einen Schub geben, indem Zölle und Handelshemmnisse abgebaut werden. Kritiker in Europa befürchten aber eine Absenkung von Standards bei Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit, Umweltschutz und im Gesundheitsbereich.

          Das Münchner Ifo-Institut sieht große Wachstumschancen für die EU und die USA durch das Freihandelsabkommen. „Der langfristige Nutzen von TTIP ist potenziell erheblich“, sagte Ifo-Ökonom Gabriel Felbermayr der „Welt am Sonntag“. So würde Deutschland über zehn Jahre gerechnet insgesamt um 3,5 Prozentpunkte stärker wachsen.

          Fragen und Antworten zum Freihandelsabkommen TTIP


          Was soll überhaupt herauskommen?

          Für die EU führt die Verhandlungen – wie stets in Handelsfragen – die Europäische Kommission. Sie ist dabei an das Mandat gebunden, das ihr die EU-Staaten im Juni 2013 erteilt haben. Das inzwischen durchgesickerte geheime Mandat ist allerdings weit gefasst und lässt der Kommission viel Spielraum. Andererseits steht klar darin, dass ein hohes Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutzniveau gefördert werden soll. Ziel der Gespräche ist nicht nur, die schon heute niedrigen Zölle abzubauen, sondern auch andere Handelshemmnisse zu beseitigen. Im Blick haben beide Seiten dabei etwa unterschiedliche Standards. Das soll der Wirtschaft in Amerika und Europa mehr Schwung verleihen. Europa darf auf wirtschaftliche Zugewinne von 119 Milliarden Euro im Jahr hoffen, Amerika auf 95 Milliarden Euro. Ursprünglich wollten Amerikaner und Europäer sich bis Ende dieses Jahres einigen. Nun ist von Ende 2015 die Rede. Wahrscheinlich werden sich die Verhandlungen aber auch wegen des öffentlichen Widerstands Jahre hinziehen.
          Warum wird nicht alles veröffentlicht?

          Immer wieder ist von Geheimverhandlungen die Rede, womit der Eindruck erweckt wird, dass hinter verschlossenen Türen über die Interessen der Bürger hinweg entschieden wird. Tatsächlich sind die Verhandlungsdokumente geheim. Das ist bisher bei allen Handelsgesprächen so gewesen. Die Kommission vergleicht die Verhandlungen gerne mit dem Feilschen beim Autokauf. Nur wenn der andere nicht wisse, welchen Preis man maximal zahlen wolle, könne man am Ende einen besseren Preis herausschlagen. Die Bundesregierung dringt zwar inzwischen auf mehr Offenheit – und wirft den Amerikanern vor, das zu blockieren. Wenn es darum geht, was sie offenlegen will, verweist sie aber nur auf das ohnehin durchgestochene Mandat. Vorab informiert über die europäischen Verhandlungsdokumente werden Vertreter der Staaten und des Handelsausschusses im EU-Parlament. Neu ist, dass bei TTIP Vertreter von Industrie und Zivilgesellschaft Einblick in Dokumente erhalten. Die Kommission hat dazu eine Beobachtergruppe aus 14 Vertretern einberufen.
          Wer entscheidet am Ende?

          Handelsabkommen müssen sowohl das EU-Parlament als auch die Staaten zustimmen – bei umfassenden Abkommen wie TTIP müssen die Staaten das sogar einstimmig tun. Sobald das Abkommen über reine Handelsfragen hinaus in die Kompetenz der Mitgliedstaaten eingreift, müssen es zudem die nationalen Parlamente ratifizieren. Die Hürde dafür ist sehr niedrig. Man spricht vom Pastis-Prinzip. So wie ein Tropfen des Anislikörs ausreicht, um ein Glas Wasser zu trüben, genügt ein Zusatzprotokoll oder ein Unterpunkt, um die Zustimmung der nationalen Parlamente erforderlich zu machen. Beim Abkommen mit Korea war das ein Protokoll zur kulturellen Zusammenarbeit. Eigentlich sind alle einig, dass auch TTIP ein solches gemischtes Abkommen ist. Handelskommissar Karel De Gucht hat aber jüngst für Misstrauen gesorgt, da er die Frage gerichtlich klären lassen will.
          Warum wird über "nichttarifäre Handelshemmnisse" verhandelt?

          Nicht nur Zölle erschweren den internationalen Handel. Auch Vorschriften, wie Produkte getestet und geprüft werden müssen, welche Anforderungen an die Sicherheit, an den Verbraucher- oder den Umweltschutz sie erfüllen und welchen technischen Standards sie genügen müssen, können den Handel behindern. Ein Beispiel: In Amerika müssen die Blinker von Autos rot blinken, in Europa orange. Keine Variante ist sicherer als die andere – dennoch müssen deutsche Autobauer für den amerikanischen Markt Autos mit roten Blinkern herstellen. Die Industrie sagt, dass eine Angleichung der Regeln und Standards oder die gegenseitige Anerkennung die Kosten für den transatlantischen Handel stark senken könnten. Doppelte Produktzulassungen und Testverfahren erhöhen die Kosten nach Berechnungen eines niederländischen Instituts bei der Einfuhr in die EU um durchschnittlich 21,5 Prozent. Im Fall von Kosmetik sind es 35, bei Autos 26 und bei Nahrungsmitteln und Getränken gar 57 Prozent.
          Unterhöhlt das den Umwelt- und Verbraucherschutz?

          Die EU-Kommission bestreitet diesen Vorwurf ebenso energisch wie die amerikanischen Unterhändler. Der amerikanische Handelsbeauftragte Michael Froman sagt, es werde keine breite Deregulierungsagenda in Gang gesetzt. Die Idee ist vielmehr, Standards und Zertifizierungsverfahren gegenseitig anzuerkennen – wenn sie ein gleich hohes Schutzniveau garantieren. Zudem könnten im Fall von neuen Technologien die dazugehörenden Standards gleich gemeinsam entwickelt werden. Dabei ist klarzustellen: Es sind keineswegs immer die Europäer, die die höheren Standards haben. Zumindest haben die Amerikaner Sorge, dass sie etwa ihre Regeln für die Zulassung von Pharmazeutika und Elektrogeräten auf EU-Niveau senken müssen. Oft ist es auch eine Frage der Perspektive, welche Standards strikter sind. In der Bankenregulierung behaupten beide Seiten, die strikteren Standards zu haben. Wer recht hat, ist nicht immer leicht zu bestimmen.
          Und was ist mit Chlorhuhn, Hormonfleisch und Gentechnik?

          TTIP wird weder die Einfuhr von Chlorhuhn noch von Hormonfleisch erlauben. Dazu sind beide Themen viel zu problematisch. Die Europäer wollen schlicht kein mit Chlor desinfiziertes Huhn und Fleisch von mit Wachstumshormonen behandelten Tieren essen. Gentechnisch behandelte Lebensmittel dürfen schon heute in der EU verkauft werden, wenn sie gekennzeichnet sind – und auch das wird sich nicht ändern. Letztlich geht es in diesem Streit eher um die Frage „Was wollen wir essen?“ und nicht so sehr darum, welches Produkt sicherer ist. Zumindest gibt es bisher keinen Beleg dafür, dass Chlorhuhn ungesünder ist. Das Gleiche gilt umgekehrt für französischen Rohmilchkäse, den die Amerikaner aus Sorge vor Krankheitserregern nicht essen wollen. Deshalb wird jenseits von Chlorhuhn und Hormonfleisch wohl am Ende die Einfuhr von Lebensmitteln erlaubt werden, die nicht jedem Europäer „schmecken“. Den Import von mit Milchsäure gereinigtem Rindfleisch etwa hat die EU schon im Vorfeld der Verhandlungen zugelassen.
          Besonders umstritten ist der Investorenschutz. Worum geht es da?

          Der Investorenschutz soll eigentlich nur sicherstellen, dass Ausländer nicht diskriminiert oder gar enteignet werden. Es gibt weltweit Tausende von Abkommen dazu, allein Deutschland unterhält 131. In den meisten davon ist vorgesehen, dass Investoren Schiedsgerichte anrufen können, wenn sie ihre Rechte verletzt sehen. In Verruf gekommen ist der Investorenschutz, weil Konzerne ihn immer stärker nutzen, um gegen unliebsame Gesetze und Auflagen der Industriestaaten vorzugehen. Zwei Fälle ragen dabei heraus: die Klagen von Philip Morris gegen die Tabakgesetze in Australien und von Vattenfall gegen den Atomausstieg. 3,5 Milliarden Euro Schadensersatz fordern die Schweden von Deutschland. Ob die beiden Konzerne recht bekommen, ist allerdings offen. Schließlich reicht es nicht aus, dass ihnen ein Gesetz zum Gesundheits- oder Umweltschutz die Bilanz verhagelt. Sie müssen belegen, dass sie benachteiligt wurden, etwa weil sie nicht ausreichend angehört worden sind. Die Kritik dreht sich auch darum, dass die Schiedsverfahren intransparent sind und es keine Möglichkeit zur Berufung gibt.
          Wie reagieren Kommission und Bundesregierung auf die Kritik?

          Die Kommission hat Vorschläge vorgelegt, wie sie den Missbrauch des Investorenschutzes durch Konzerne verhindern, die Verfahren transparenter machen und Berufungsverfahren ermöglichen will. Ob sie das gegen die Vereinigten Staaten durchsetzen kann, ist offen. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) wiederum behauptet, zwischen Staaten mit funktionierendem Rechtssystem wie in der EU und Amerika sei ein solches Investorenschutzabkommen nicht notwendig. Der normale Rechtsweg reiche aus. Das stimmt nicht ganz, weil völkerrechtliche Abkommen, und das ist TTIP, nicht vor normalen Gerichten durchgesetzt werden können. Scheinheilig ist es zudem, denn Deutschland hat selbst Investitionsschutzabkommen sogar mit anderen EU-Staaten wie Polen, Slowenien oder den baltischen Staaten abgeschlossen.

          Der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU), warb am Sonntag im Deutschlandfunk für das Freihandelsabkommen. Die Politik müsse für mehr Transparenz bei den Verhandlungen sorgen, sagte er. Zudem müsse den Menschen die wirtschaftliche Bedeutung von TTIP klargemacht werden. Weber betonte zugleich, dass er dem Abkommen nur zustimmen werde, wenn der europäische Nutzen eindeutig nachvollziehbar sei und es keine Abstriche beim Verbraucherschutz gebe.

          CDU-Generalsekretär Peter Tauber sagte der Zeitung „Welt“ (Montagsausgabe), das Freihandelsabkommen könne „einen wertvollen Beitrag leisten, die Risse im transatlantischen Verhältnis zu kitten“. Er machte zugleich deutlich, dass der Abschluss des Abkommens nicht sicher sei. „TTIP muss sich für die Deutschen und die Europäer lohnen“, sagte er. „Es muss zu neuen Arbeitsplätzen führen, zu weniger Steuern, zu niedrigeren Preisen für den Verbraucher - bei Beibehaltung unserer hohen Standards.“ Der CDU-Politiker betonte: „Wir unterschreiben nichts blanko.“

          Nach Einschätzung von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble deutlich länger dauern als ursprünglich vorgesehen. „Man sollte nicht erwarten, dass die TTIP-Verhandlungen bis Ende 2015 abgeschlossen werden können, wie bislang geplant“, sagte der CDU-Politiker der „Rheinischen Post“ vom Samstag. „Das wird eher länger dauern.“

          Bis ein Vertrag dann in Kraft treten könne, werde weitere Zeit vergehen. „Man muss die Bevölkerungen und die Parlamente davon überzeugen. In den USA muss das Abkommen durch den amerikanischen Kongress. In Europa müssen es alle 28 nationalen Parlamente ratifizieren“, betonte Schäuble. „Wenn man in der Bevölkerung nicht ein Grundvertrauen zurückgewinnt, ist das gar nicht zu schaffen.“

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