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Schlechte Umfragewerte : Die Sorgen der Grünen

  • -Aktualisiert am

Können sich über viele Twitter-Follower freuen: Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir. Mit den Wählern sieht das anders aus. Bild: dpa

Die Grünen können sich angesichts ihrer Umfragewerte vor der Bundestagswahl keinen Fehler mehr erlauben. Trotzdem beschäftigt sich die Partei lieber mit korrekten Schreibweisen als mit ihrem Wahlprogramm. Ein Kommentar.

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          Man kann den Grünen sehr einfach folgen, jedenfalls auf Twitter. Ein Klick, schon ist man einer der 48.000 Follower des Parteivorsitzenden Cem Özdemir. Noch ein Klick, und man gehört zu den mehr als 86.000, die der Ko-Vorsitzenden Katrin Göring-Eckardt folgen. Nicht ganz so einfach ist es dagegen, den Grünen inhaltlich zu folgen. Zwar hat ihr Wahlprogramm stolze 106 Seiten. Dennoch hat es die Partei geschafft, sogar auf den Kernfeldern Verwirrung zu stiften über ihren Kurs. Keine günstige Ausgangslage für den Grünen-Parteitag, der an diesem Freitag in Berlin beginnt.

          Beispiel Kohleausstieg: Die „20 dreckigsten Kohlekraftwerke“ wollen die Grünen im Falle einer Regierungsbeteiligung nach der Bundestagswahl sofort abschalten. So steht es sowohl im Entwurf des Parteivorstands für das Wahlprogramm als auch im Zehn-Punkte-Plan, den die Parteispitze dem Programm noch hinterhergeschoben hat. Wie aber der restliche Kohleausstieg aussehen soll, bleibt unklar.

          Ausstiegsdaten sorgen für Verwirrung

          „Spätestens im Jahr 2050 wollen wir nur noch saubere Energie in Deutschland haben“, heißt es im Zehn-Punkte-Plan, den die Grünen als verbindliches Angebot an die Wähler bewerben. Im Programmentwurf und im Kohleausstiegsfahrplan der Grünen-Fraktion ist dagegen davon die Rede, die restlichen Kohlekraftwerke innerhalb der nächsten 20 Jahre abzuschalten – rein rechnerisch wäre das ein Ausstieg noch vor dem Jahr 2040. Entsprechend gibt es für den Parteitag schon den Änderungsantrag, dann bitte auch in den Zehn-Punkte-Plan „2040“ zu schreiben.

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          Ähnlich ist es mit dem zweiten Ausstieg, den die Grünen planen: jenem „aus dem fossilen Verbrennungsmotor“, wie es im Wahlprogramm heißt. Dort ist auch zu lesen: „Ab 2030 sollen nur noch abgasfreie Autos vom Band rollen. Das Zeitalter der fossilen Verbrennungsmotoren ist dann zu Ende.“ Mal abgesehen davon, ob die Grünen überhaupt so mir nichts dir nichts das Ende eines Zeitalters ausrufen können, taucht im Zehn-Punkte-Papier das Ausstiegsdatum 2030 für den Verbrennungsmotor nicht auf.

          Ihre Verheißungs-Shortlist haben die Grünen mehrere Wochen nach dem Wahlprogramm präsentiert. Hat die Parteispitze in der Zwischenzeit Angst vor der flotten Beschlusslage des Parteitags vom November bekommen? Oder ist ein konkretes Datum nicht wichtig genug, um auf der aggregierten „Versprochen ist versprochen“-Liste der Partei aufzutauchen? Das allerdings wäre seltsam, weil die Ökologie mit ihren Tiefausläufern Richtung Energie, Verkehr und Landwirtschaft das zentrale Wahlkampfthema der Grünen ist. Und wie passt das alles zu den Gesprächen, die der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann in Sachen Diesel mit der Autoindustrie in Baden-Württemberg führt? Auch beim Ausstiegsdatum für den Verbrennungsmotor gibt es jedenfalls einen Änderungsantrag, das Jahr 2030 in den Zehn-Punkte-Plan aufzunehmen.

          Zündstoff ist also vorhanden. Dabei haben Bundesdelegiertenkonferenzen der Grünen ohnehin ihre eigene Dynamik und bergen stets eine gewisse Unberechenbarkeit. Allein die Tatsache, dass die Parteispitze sich überhaupt erdreistet hat, die Zehn-Punkte-Liste zu erstellen, wo die Basis doch erst mal in Ruhe über das gesamte Programm befinden möchte, empört so manches Parteimitglied. Fraglich ist auch, wie die Delegierten sich zum „Jamaika“-Bündnis in Kiel verhalten werden, das sich kurz vor dem Parteitag über den Koalitionsvertrag einig geworden ist.

          Anders als etwa die Union tragen die Grünen ihre Meinungsfindungsprozesse auf offener Parteitagsbühne aus. Vorher ist oft nicht absehbar, wer sich durchsetzen wird – Linke, Realos, Grüne Jugend oder Parteivorstand. Die schiere Masse der 2000 Änderungsanträge für den Parteitag ist Ausdruck grüner Basisdemokratie. Sie zeigt aber auch, wie ungeheuer gerne sich die Grünen mit sich selbst beschäftigen und mit Dingen, die „die hart arbeitenden Menschen“, wie SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz sagen würde, kaum als besonders drängend empfinden dürften.

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          Zwar sind die Grünen inzwischen auch für mehr Polizei und haben begriffen, dass die steigende Einbruchskriminalität den Bürgern Angst macht. Trotzdem befassen sie sich mit Wünschen wie dem, man möge im Wahlprogramm doch „Tiere“ statt „Geschöpfe“ schreiben, im Sinne einer „religionsneutralen Darstellung“. Oder „Bürger*innen“ statt „Bürgerinnen und Bürger“, weil das auch diejenigen mit einschließe, „die sich in der binären Geschlechterkategorisierung nicht wiederfinden“.

          Drei Monate vor der Bundestagswahl sind die Grünen in einer Situation, in der sie sich keine Fehler mehr erlauben können. Zwischen sieben und acht Prozent pendeln sie in Umfragen. Nachdem der wenig glanzvolle Parteitag im November den Sinkflug eingeleitet hatte, kostete der Schulz-Effekt sie weitere Unterstützer. Inzwischen nähert sich die SPD wieder jenen Regionen an, in denen sie vor Schulz dümpelte. Die Grünen aber rätseln, wo ihre Abtrünnigen verblieben sind. Wenig deutet darauf hin, dass sie in ihrem aktuellen Zustand die versprengten Schäfchen wieder einsammeln können.

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