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Gesundheitskarte : Hohe Kosten und kein Nutzen

70 Millionen Chipkarten wurden bislang verschickt - doch die versprochenen Zusatzangebote stehen in den Sternen. Bild: Ilja C. Hendel / VISUM

Schon eine Milliarde Euro hat das Vorhaben verschlungen - ohne den versprochenen Nutzen. Ärzte mauern, Kassen drohen. Verliert die Politik jetzt die Geduld?

          3 Min.

          Fast jeder Kassenpatient trägt sie mit sich. Etwa 70 Millionen Versicherte haben bis Ende vergangenen Jahres die neue elektronische Gesundheitskarte bekommen, mit Foto und Chipkarte. Karten und technische Infrastruktur kosten die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) eine Stange Geld. Bis Ende dieses Jahres würden Gesamtkosten von mehr als einer Milliarde Euro aufgelaufen sein, sagt der Vorsitzende des GKV-Verwaltungsrates, Volker Hansen. Doch wohl ist ihm nicht dabei. Denn genutzt hat das Milliardenprojekt bisher vor allem Kartenherstellern und IT-Ausrüstern. Für die Milliarde Euro, mault Hansen, „müsste man alsbald einen Nutzen sehen, damit das Ganze überhaupt noch zu rechtfertigen ist“.

          Andreas Mihm
          Wirtschaftskorrespondent für Österreich, Ostmittel-, Südosteuropa und die Türkei mit Sitz in Wien.

          Denn von den vielen Angeboten, mit denen vor elf Jahren für die Einführung der Karte geworben worden war, ist keines da: Notfalldaten, elektronisches Rezept, Arztbrief, Organspendeerklärung - Fehlanzeige. Die kämen 2018 und später, vertrösten die Kassenleute. „Wir alle hatten die Komplexität des Projektes unterschätzt“, sagt Vorstandschefin Doris Pfeiffer. Immerhin kann der Chip auf der Karte online mit einem Rechner kommunizieren und prüfen, ob zum Beispiel die Adresse von Frau Müller stimmt oder ob die Karte von Herrn Meier vielleicht nach einem Diebstahl gesperrt wurde.

          Doch auch damit ist es nicht weit her. Die Ärzte wollen den Datenabgleich nicht übernehmen und auch künftig Patienten behandeln, die mit der alten Kassenkarte ohne Chip und Foto kommen. Wechselseitig werfen sich Kassen und Ärzte Blockade vor. „So wollen wir das nicht, wir wollen es anders, das wollen wir gar nicht“, dekliniert Hansen die drei Stufen der Verweigerungsstrategie der Kassenärzte und ihrer Bundesvereinigung (KBV) herunter.

          „Ewige Neinsager“

          Deren Vorsitzender Andreas Gassen keilt zurück: Die Kassenfunktionäre gerierten sich „als ewige Neinsager“. Hunderttausende Patienten hätte noch keine neue Kassenkarte. „Vor diesem Hintergrund ist es anmaßend von den Kassenfunktionären, eine endgültige Ablösung der alten Krankenversichertenkarte zum 30. September 2014 zu fordern.“ Der Termin, erwidern die, sei verabredet.

          Der Politik, die sich seit Jahren müht, den zähen Prozess bei Ärzten und Kassen voranzutreiben, wird das zu bunt. Im Gesundheitsministerium heißt es: „Wir wollen, dass die elektronische Gesundheitskarte ein Erfolg wird.“ Kassen und Ärzte müssten dafür die Voraussetzungen schaffen. Ähnlich hatte sich Minister Hermann Gröhe (CDU) auf dem Ärztetag geäußert. Deutlicher wird der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Jens Spahn (CDU). „Wir sind gerade in einer entscheidenden Phase, die elektronische Gesundheitskarte muss endlich mit tatsächlichem Mehrwert für Patienten und Ärzte in den Echtbetrieb“, sagt er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er erwarte klare zeitliche Vorgaben und Umsetzungen und droht mit dem Gesetz: „Schafft das die Selbstverwaltung nicht alleine, werden wir nachsteuern.“

          Ein eigenes Netz der Ärtze

          Darum bittet die Kassenseite die Politik flehentlich. Man brauche Zeitvorgaben und Sanktionsandrohungen, sagt Hansens Kollege Christian Zahn. Geht es nach den Kassen, dürften die Ärzte ab Oktober Kassenleistungen nur noch über die neue Karte abrechnen. Patienten ohne Karte müssten die dann nachreichen - oder der Arzt eine Rechnung schreiben.

          In dem Streit geht es auch darum, wer die Hoheit über Daten und Datenflüsse im Gesundheitswesen besitzt. Die Politik hat dazu die Betreibergesellschaft Gematik geschaffen. In der sitzen die (das alles zahlenden) Kassen mit Ärzten, Zahnärzten und Apothekern und planen das neue Gesundheitsnetz. Das hält manche nicht davon ab, eigene Netze zu schaffen. So verbinden die Kassenärzte immer mehr Praxen und Krankenhäuser über ein eigenes IT-Netz. Sie nennen es „KV Safenet“.

          Glaubt man den Kassen, verspricht der Name mehr, als die Kassenärzte halten können. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik warnen vor einer Aufsplitterung von Verantwortlichkeiten und Sicherheitsstandards mit der Folge, „dass das Sicherheitsniveau des Gesamtsystems gefährdet wird“.

          Damit die Sicherheit der weitgehend funktionslosen elektronischen Gesundheitskarten nach 2017 gewährleistet ist, müssen die bis Ende 2017 ausgetauscht werden. Dann endet das Zertifikat für einen der Sicherheitsschlüssel. Neue, umfangreichere Algorithmen auf einer neuen Kartengeneration müssen her, was die Kassen noch einen dreistelligen Millionenbetrag kosten wird. Welche Anwendungen dann damit abgerufen werden können, steht aber noch in den Sternen.

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