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FAZ.NET-Spezial: Lohnzuschüsse : „Zu niedrigeren Löhnen gibt es Jobs“

  • Aktualisiert am
Ifo-Chef Hans-Werner Sinn

Ifo-Chef Hans-Werner Sinn Bild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Vom Sofa in eine sinnvollere Beschäftigung: Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn wirbt für sein Modell der aktivierenden Sozialhilfe. Die Kosten der Lohnsubventionen seien geringer als für das heutige Arbeitslosengeld.

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          Lohnzuschuß statt Lohnersatz. Unter diesem Schlagwort läßt sich das Modell der „aktivierenden Sozialhilfe“ fassen, für das der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Hans-Werner Sinn, werbend durch die Medienlandschaft zieht.

          Das Konzept setzt am Kernproblem im Niedriglohnbereich an: der Lohnkonkurrenz des Sozialstaats. „Die Sozialhilfe oder das Arbeitslosengeld II bilden eine Lohnuntergrenze für das Tarifsystem“, sagt Sinn im Gespräch mit dieser Zeitung. „Die Lohnkonkurrenz des Sozialstaats läßt Geringqualifizierten keine Chance, für weniger Lohn eine Arbeit zu finden.“

          In der Armutsfalle

          So rutschen geringqualifizierte Arbeitslose in die Armutsfalle der Nichtbeschäftigung. Unternehmen stellen niemanden ein, dessen Wertschöpfung unter dem Arbeitslosengeld II (Alg II) oder der Sozialhilfe liegt, und geringqualifizierte Arbeitslose nehmen keine Stelle an, die ihnen nicht mehr als den Lohnersatz des Sozialstaats verschafft.

          Bild: F.A.Z.

          Sinn will dieses Problem umfassend lösen. Der erste Baustein ist die Lohnsenkung für Geringqualifizierte, damit es für Unternehmen wieder attraktiv wird, die „nicht so leistungsfähigen Menschen“ einzustellen. Der Alg-II-Regelsatz für nicht Beschäftigte sei um ein Drittel zu kürzen, um die staatliche Lohnkonkurrenz auszuschalten. Eine Familie mit zwei Kindern bekäme nicht mehr 1550, sondern 1050 Euro ausbezahlt. „Wenn die Lohnuntergrenze niedriger liegt, dann werden die Leute bereit sein, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, und zu niedrigeren Löhnen gibt es Jobs“, sagt Sinn.

          Großzügige Hinzuverdienstregel

          Zweiter Baustein ist der staatliche Lohnzuschuß, das „Sozialeinkommen“, das Niedriglohnarbeitern ermögliche, zum „sozial gewünschten Standard“ leben zu können. Empfänger von Arbeitslosengeld II, die arbeiten, erhielten für die ersten 200 Euro Eigenverdienst 20 Prozent oder 40 Euro vom Staat dazu. Hinzu käme eine großzügige Hinzuverdienstregel. 500 Euro könnten die Alg-II-Empfänger verdienen, ohne daß der Lohnzuschuß gekürzt wird.

          Ab 501 Euro Verdienst würde dieser abgeschmolzen und liefe bei einem Bruttomonatsverdienst der vierköpfigen Familie von gut 2100 Euro aus. Die Grenzentzugsrate, mit der Eigenverdienst die Alg-II-Leistungen verringert, soll deutlich niedriger als heute liegen. Auch nach der Neuregelung der Hinzuverdienstmöglichkeiten nehme der Staat von jedem verdienten Euro mindestens 80 Cent wieder weg, sagt Sinn. Das müsse weniger werden, um die Arbeitsanreize zu stärken.

          Stichwort sinnvolle Arbeit

          Der dritte Baustein ist die Verpflichtung der Kommunen, jedem arbeitswilligen Empfänger von Alg II eine Stelle anzubieten. Sinn will so verhindern, daß Arbeitslose, die keine reguläre Stelle finden, unter 1550 Euro (für die vierköpfige Familie) im Monat fallen. Im Gegensatz zu den Ein-Euro-Jobs sollen die Kommunen keine zusätzliche, gemeinnützige Beschäftigung suchen. Sie sollen vielmehr die Arbeitslosen für acht Stunden am Tag an Unternehmen oder Zeitarbeitsfirmen zu solch niedrigen Honorarsätzen verleihen, zu denen es Nachfrage gibt. Sinnvolle Arbeit lautet das Stichwort.

          Was wäre mit der „aktivierenden Sozialhilfe“ gewonnen? Die Löhne für alle Niedriglohnbezieher würden sinken und die Beschäftigung würde steigen, sagt Sinn. Mittelfristig könnten etwa 2,3 Millionen Arbeitslose zu Niedriglöhnen in Arbeit und Brot gebracht werden, ohne daß sie - gestützt durch das Sozialeinkommen - unter das Existenzminimum fielen. Von dem Transfers würden zusätzlich etwa 4,5 Millionen Beschäftigte abhängig, weil der Lohnsatz unter Druck käme und mehr Menschen mit ihrem Einkommen in den Transferbereich hineinfielen. Sinn sagt: „Es gibt keine Möglichkeit, Beschäftigung für Geringqualifizierte zu schaffen, ohne daß es Lohnkostensenkungen gibt und ohne daß auch die heute noch beschäftigten Geringqualifizierten billiger werden.“

          Zweiter Arbeitsmarkt als Chance

          Insgesamt erhielten rund 6,8 Millionen Deutsche Einkommenszuschüsse des Staates - für den sich das dennoch rechnen soll: Die Kosten der Lohnsubventionen seien geringer als für das heutige Arbeitslosengeld, weil der Transfersatz um ein Drittel gesenkt werde, sagt Sinn. Die Einnahmen aus dem Verleih der Arbeitslosen würden die Rechnung sogar ins Positive wenden. Bedenken, daß dauerhaft ein zweiter Arbeitsmarkt installiert würde, hat der Ökonom nicht. „Das ist keine Gefahr, sondern eine Chance. Mit der aktivierenden Sozialhilfe wird der zweite Arbeitsmarkt vom Sofa vor dem Fernseher und vom Schwarzmarkt in eine legale und sinnvollere Beschäftigung überführt.“

          Die Gewerkschaften, davon ist Sinn überzeugt, werden bei dem Ifo-Modell mitspielen müssen. „Sie werden im Interesse der eigenen Klientel bereit sein, niedrigere Löhne zu vereinbaren, damit diese in den Genuß der Lohnzuschüsse kommt. Und niedrigere Löhne sind dann ja auch kein soziales Problem mehr, weil sie durch Zuschüsse abgefangen werden.“

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