F.A.Z. exklusiv : Deutscher Target-Saldo steigt auf mehr als 800 Milliarden Euro
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Jens Weidmann, der Präsident der Deutschen Bundesbank Bild: dpa
Die Forderungen an den Euroraum steigen weiter. Die Bundesbank sieht einen Zusammenhang zum Anleiheprogramm der EZB. Doch es steckt mehr dahinter. Ifo-Chef Fuest warnt vor einem schlechten Geschäft für Deutschland.
Die Ungleichgewichte im Zahlungssystem der europäischen Notenbanken namens Target2 haben einen neuen Rekordstand erreicht, was bei einigen Ökonomen, Politikern und Notenbankern Besorgnis ausgelöst hat. Der deutsche Target2-Saldo ist erstmals über die 800-Milliarden-Marke gestiegen. Die Forderung an das Eurosystem stieg im Februar um fast 20 Milliarden Euro auf 814 Milliarden Euro, wie die Bundesbank am Dienstag auf ihrer Internetseite schrieb. „Die Target2-Salden steigen weiter rapide“, sagte Bundesbank-Vorstand Carl-Ludwig Thiele der F.A.Z.
Der aktuelle Stand liegt nun deutlich über dem auf dem Höhepunkt der Euro-Krise Mitte 2012, als der Target-Saldo in der Spitze 751 Milliarden Euro erreichte. Seit zwei Jahren steigt er wieder kräftig. Gegenüber Anfang 2015 ist der deutsche Saldo um 300 Milliarden Euro gestiegen. Umgekehrt sind die Salden der südeuropäischen Länder auf Rekordtiefs gefallen. Italien verzeichnete nach Daten der Europäischen Zentralbank (EZB) ein Target-Minus von 364 Milliarden Euro per Ende Januar, Spaniens Target-Minus ist auf rund 350 Milliarden Euro gewachsen.
Über das Target-System werden grenzüberschreitende Zahlungen zwischen den Notenbanken abgewickelt. Grob gesagt hat ein Land eine Target-Verbindlichkeit, wenn Geld aus dem Land abfließt. Bis Ausbruch der Finanzkrise pendelten die Target-Salden um die Nulllinie. Danach, als die privaten Kapitalflüsse in die Euro-Peripherie austrockneten, wurde über Target Leistungsbilanzdefizite und schließlich Kapitalflucht aus der Peripherie finanziert. Der damalige Präsident des Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn kritisierte, Target sei letztlich eine „goldene Kreditkarte“ ohne Limit für die Defizitländer. Seit Beruhigung der Euro-Krise 2012 gingen die Target-Salden von ihren Spitzenwerten deutlich zurück, nachdem EZB-Chef Draghi sein Machtwort zur Eurorettung („whatever it takes“) gesprochen hatte.
Rein technischer Effekt?
Den neuerlichen starken Anstieg seit Anfang 2015 erklären die europäischen Notenbanken mit dem Anleihekaufprogramm. Dabei werden viele Anleihen, etwa italienische Papiere, von internationalen Banken abgekauft, die bei der Bundesbank ein Konto führen. Wenn die Banca d’Italia den Kauf mit Zentralbankgeld finanziert, steigt umgekehrt die deutsche Target-Forderung gegen das EZB-System. Bundesbank-Vorstand Thiele spricht von einem „rein technischen Effekt“. Allerdings deutet er auch an, dass hinter den sich aufbauenden Target-Ungleichgewichten noch mehr steckt: Denn die internationalen Banken und Anleger, die italienische oder spanische Anleihen abstoßen, legen ihr Geld nicht wieder in Italien oder Spanien an, sondern belassen es in Deutschland.
Die amerikanische Ökonomin Carmen Reinhardt von der Harvard-Universität sah in den auseinanderlaufenden Target-Salden den Ausdruck einer Kapitalflucht aus Südeuropa. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Marcel Fratzscher sagte dieser Zeitung, der Target-Anstieg sei zunächst nicht Zeichen einer „aktiven Kapitalflucht“, er könne aber mit einer Flucht in die Sicherheit in Deutschland zusammenhängen.
Ifo-Präsident Clemens Fuest sieht die Entwicklung sehr viel kritischer: „Gewinner der Aktion sind der spanische und der italienische Staat, die nun nicht mehr durch verzinsliche Staatsanleihen, sondern zinslos beim Eurosystem verschuldet sind. Verlierer ist Deutschland, das nun in Form der unverzinslichen Target-Kredite Risiken übernimmt und seine Verhandlungsposition im Euroraum verschlechtert.“
Mehr als die Hälfte der Bundesbank-Bilanz
In der Bundesbank gibt es einige, die doch besorgt sind über die gewaltige Target-Position, die mittlerweile mehr als die Hälfte der Bundesbank-Bilanz von gut 1,4 Billionen Euro ausmacht. Zu einem Problem würde die Target-Salden, wenn ein Land aus der Währungsunion ausscheiden sollte. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann hat es abgelehnt, dass die Notenbank für die Target-Position eine Risikovorsorge betreibt.
„Unser Basisszenario ist der Fortbestand der Währungsunion. In diesem Basisszenario sind die Target2-Salden nicht verlustträchtig“, sagte Weidmann auf der Bilanzpressekonferenz vor zwei Wochen. Und die Bundesbank gehe wie EZB-Chef Mario Draghi davon aus, dass Target-Verbindlichkeiten im Falle eines Austritts eines Landes beglichen würden. Er fügte aber hinzu: „Wie das dann in der Praxis aussieht, inwieweit eine Regierung dann willens und fähig ist, diese Forderung zu begleichen, steht auf einem anderen Blatt.“
„Eurokrise nicht vorbei“
Dass die Target-Salden nicht völlig ohne Risiko sind, gestehen auch Bundesbanker hinter vorgehaltener Hand ein. Auch einige Politiker sehen sie als Problem. Der Unionsfraktionsvize Ralph Brinkhaus sagte dieser Zeitung zurückhaltend: „Es handelt sich um eine geldpolitische Größe, deren Entwicklung wir aufmerksam beobachten.“ Der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold wurde deutlicher: „Das dauerhaft hohe Niveau der Target-Salden zeigt, dass die Eurokrise nicht vorbei ist.“ Die Geldpolitik der EZB müsse die fiskalpolitische Tatenlosigkeit der Mitgliedsländer ausgleichen, meint er. Zu den Ursachen des jüngsten Anstiegs der Target-Salden müsse die EZB eine präzise, mit Daten unterlegte Erklärung vorlegen, fordert Giegold.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat sich die eurokritische AfD auf das Thema eingeschossen. AfD-Vorstandsmitglied Alice Weidel betont die Haftungsrisiken, die sich für deutsche Steuerzahler ergäben. Sie spricht von einem „Haftungswahnsinn“. Die Target-Forderung der Bundesbank von mehr als 800 Milliarden Euro sei inzwischen schon so groß wie zweieinhalb Bundesjahreshaushalte. Target2 sei ursprünglich lediglich als Verrechnungssystem für kurzfristige länderübergreifende Salden gedacht gewesen. „Seit Beginn der Eurokrise wird es genutzt, um Handelsbilanzdefizite und Kapitalflucht aus den Euro-Südländern zu kaschieren“, kritisierte Weidel. Das Risiko trage die Bundesbank und damit letztlich der deutsche Steuerzahler.