Nach dem Brexit-Votum : In Großbritannien kehrt der starke Staat zurück
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Die Wirtschaft soll nach dem Willen von Theresa May mehr Briten und weniger ausländische Arbeitskräfte einstellen. Bild: dpa
Neue Töne auf dem Parteitag der Konservativen: Premierministerin Theresa May attackiert Unternehmenschefs - und will „die Gerechtigkeit in Großbritannien wiederherstellen“.
Es ist ein Satz, den in den vergangenen vier Jahrzehnten kein konservativer Premierminister in Großbritannien in den Mund genommen hätte: Der Staat müsse die freie Marktwirtschaft „reparieren“, wenn diese nicht funktioniere, verkündete Theresa May am Mittwoch in einer Rede auf dem Parteitag der britischen Konservativen in Birmingham.

Redakteur in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
In Großbritannien solle „die Gerechtigkeit wiederhergestellt“ werden. May attackierte zugleich Unternehmer, die auf Kosten der Mitarbeiter überzogene Dividenden kassierten: „Ich warne Sie, so kann das nicht mehr weitergehen“, sagte die Regierungschefin, die im Juli David Cameron abgelöst hat.
Der Kurswechsel ist unübersehbar: In Großbritannien ist der starke Staat zurück. Am deutlichsten wurde auf dem Parteitag George Freeman, der Chef der Strategieabteilung der Regierung. Wenn das Wirtschaftssystem Großbritanniens nicht rasch reformiert und für mehr soziale Gerechtigkeit gesorgt werde, drohten „antikapitalistische Ausschreitungen“, warnte Freeman in Birmingham. „Der Kapitalismus muss mehr in Partnerschaft mit dem Staat arbeiten“, forderte der Berater der Regierungschefin.
Unternehmen sollen weniger Ausländer beschäftigen
Im wirtschaftsliberalen Großbritannien sind das ziemlich ungewohnte Töne. Seit die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das damals marode Land mit einem radikalen Reformkurs wieder flottmachte, hat auf der Insel ein parteiübergreifender Grundkonsens geherrscht: Staatliche Interventionen in die Wirtschaft schaden im Zweifel mehr, als sie nutzen. Jetzt schwingt das Pendel zurück.
Die Premierministerin forderte auf dem Parteitag die Wirtschaft auf, weniger ausländische Arbeitskräfte einzustellen: Es gebe einen „gesellschaftlichen Vertrag“, der besage: „Bilden Sie zuerst einheimische junge Menschen aus, bevor Sie billige Arbeitskräfte aus dem Ausland einstellen.“
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Die Regierung erwägt deshalb, Unternehmen dazu zu verpflichten offenzulegen, wie viele ausländische Arbeitnehmer sie beschäftigen. Viele Briten fürchten, dass der starke Anstieg der Einwanderung die Löhne drückt und Schulen und Krankenhäuser verstopft. In Zukunft würden diese Sorgen ernst genommen und nicht mehr als „provinziell“ abgetan, versicherte May.
5 Milliarden Pfund zur Förderung des Wohnungsbaus?
Der staatliche Sparkurs der vergangenen Jahre ist ebenfalls passé: Der neue Schatzkanzler Philip Hammond kündigte eine „flexible und pragmatische“ Haushaltspolitik an und gab ein 5 Milliarden Pfund schweres Ausgabenprogramm zur Förderung des Wohnungsbaus bekannt.
Hammonds geschasster Amtsvorgänger George Osborne wollte bis Ende des Jahrzehnts einen staatlichen Haushaltsüberschuss erreichen. Doch dieses Ziel hat die Regierungschefin May schon im Sommer kassiert. „Wenn sich die Zeiten ändern, müssen auch wir uns ändern“, rechtfertigte Hammond nun den Kurswechsel. Nach dem Votum der Briten für den Austritt aus der EU wären die konjunkturellen Risiken des bisherigen Sparkurses zu groß.
May hat außerdem „eine ordentliche Industriepolitik“ angekündigt. Übernahmen wichtiger britischer Unternehmen durch ausländische Investoren sollen in Zukunft kritischer geprüft werden als bisher - auch das ein Bruch mit der wirtschaftsliberalen Grundlinie der vergangenen Jahrzehnte, in denen reihenweise heimische Großkonzerne ins Ausland verkauft wurden. Die Regierung will außerdem Unternehmen dazu verpflichten, Arbeitnehmer- und Verbrauchervertreter in ihre Verwaltungsräte aufzunehmen.
Für einen stärkeren Staat fehlt das Geld
Dass mehr Staat in Großbritannien plötzlich wieder in Mode ist, hängt nicht zuletzt mit dem Brexit-Votum im Juni zusammen: Das Ergebnis des EU-Referendums ist auch ein Denkzettel für die politische und wirtschaftliche Elite des Landes, die vor allem im reichen London sitzt.
„Es war nicht nur ein Votum dafür, das britische Verhältnis zur EU zu verändern, sondern auch die Art und Weise, wie dieses Land funktioniert“, sagte May. In kaum einem großen Industrieland hat sich die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung in den vergangenen Jahrzehnten so stark geöffnet wie in Großbritannien.
Ob die Regierungschefin ihre Versprechungen einlösen kann, ist allerdings offen: Die ungeliebten Wirtschaftsmigranten aus Ost- und Südeuropa beispielsweise sind momentan im britischen Arbeitsmarkt schwer wegzudenken. Im staatlichen Gesundheitsdienst NHS machen Einwanderer mehr als ein Drittel der Belegschaft aus.
Aus Kostengründen hat der NHS in den vergangenen Jahren viel zu wenig eigenes Personal ausgebildet. Finanzminister Hammond wiederum hat wenig Spielraum für große Ausgabenprogramme: Das Haushaltsloch der Regierung ist noch immer gut 72 Milliarden Pfund groß. Der britische Staat soll wieder stärker werden - aber es fehlt das Geld, um ihn wesentlich größer zu machen.