Armutsbericht : Halb volle oder halb leere Armenviertel?
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Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Bild: dpa
Mit einer Überarbeitung des Armutsberichts bereitet sich Schwarz-Gelb auf den Bundestagswahlkampf vor. Die Opposition ruft seit Monaten „Fälschung“.
Vernebelung, Verschleierung und Schönfärberei sind noch Vorwürfe der milderen Art. Die Bundesregierung muss sich von der Opposition, von Gewerkschaften und Sozialverbänden noch schärfer schelten lassen: „Fälschung“, rufen sie seit Monaten - oder gar: „Zensur!“ Objekt der Kritik ist der fast 500 Seiten lange Bericht „Lebenslagen in Deutschland - Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung. Rot-Grün machte die regelmäßige Berichterstattung über Arm und Reich im Jahr 2001 zur Pflicht.
In dieser Wahlperiode wird schon der vierte Armutsbericht geschrieben, federführend im Bundesarbeitministerium. Von dort aus sickerte Mitte September ein erster Entwurf durch. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ließ darin ein recht düsteres Bild von der sozialen Lage im Land zeichnen, von wachsender Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen, von einer gespaltenen Gesellschaft. Versteckt inmitten von Zahlen, Daten und Tabellen hieß es im Bericht schließlich: „Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.“
„Linksrhetorik pur“
Doch als „die Bundesregierung“ wollten sich von der Leyens Kabinettskollegen mitnichten vereinnahmen lassen. „Linksrhetorik pur“, schimpfte das CDU-geführte Finanzministerium. Und Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) legte gegen die neue Umverteilungsidee der Sozialpolitikerin umgehend sein Veto ein. In der Öffentlichkeit wurde die Ressortabstimmung über den Armutsbericht rasch auf einen Koalitionskrach zwischen von der Leyen und Rösler verkürzt. Dabei hatte es auch im Arbeitsministerium lautstarken Ärger gegeben, als man sich dort der (im näherrückenden Wahlkampf schädlichen) Wirkung einiger Berichtspassagen bewusst wurde. Ungewohnte Unterstützung erntete von der Leyen derweil aus dem gegnerischen politischen Lager. Diese gipfelte kürzlich in der Grußadresse des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der die deutlichen Änderungen am Bericht im Bundestag mit den Worten kommentierte, die Regierung habe „eine mutige Ministerin mundtot gemacht“.
Doch der Reihe nach: Der Zwist zwischen Schwarz und Gelb verhinderte die geplante Befassung des Kabinetts mit dem Armutsbericht am 14. November. Stattdessen kam in den trüben Herbsttagen eine nachgebesserte Fassung auf den Markt. Sofort kassiert hatte Rösler mit Zustimmung von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Vermögensbesteuerungsvorschlag. In der Endfassung ist jetzt nur noch vom „freiwilligen Engagement Vermögender“ die Rede. Auch an anderen Stellen hatte der Wirtschaftsminister durch Streichen und Umformulieren von Sätzen und Halbsätzen den Bericht geglättet - und so für einen anderen Zungenschlag gesorgt. In der Lebenslagen-Betrachtung wurde so aus einem halbleeren Glas innerhalb einiger Wochen ein halbvolles.
Dem Renommee der Bundesregierung war das dennoch nicht von Nutzen: Von der Leyen stand als Verliererin da, der FDP-Mann Rösler als Rächer der Reichen. Moralische Gewinner waren in der öffentlichen Debatte die anderen, die Missstände unverschleiert und unverfälscht dokumentiert haben wollten. Denn wer wollte an der Richtigkeit der Feststellung zweifeln, dass die „Privatvermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt“ seien? Die Regierung lieferte die Steilvorlage dafür, dass eine inhaltliche Debatte über den Kern des Berichts - nämlich die Chancen, der Armut durch Arbeit und sozialen Aufstieg zu entgehen - überlagert wurde.