https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/armut-und-reichtum/armutsbericht-halb-volle-oder-halb-leere-armenviertel-12105119.html

Armutsbericht : Halb volle oder halb leere Armenviertel?

  • -Aktualisiert am

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen Bild: dpa

Mit einer Überarbeitung des Armutsberichts bereitet sich Schwarz-Gelb auf den Bundestagswahlkampf vor. Die Opposition ruft seit Monaten „Fälschung“.

          4 Min.

          Vernebelung, Verschleierung und Schönfärberei sind noch Vorwürfe der milderen Art. Die Bundesregierung muss sich von der Opposition, von Gewerkschaften und Sozialverbänden noch schärfer schelten lassen: „Fälschung“, rufen sie seit Monaten - oder gar: „Zensur!“ Objekt der Kritik ist der fast 500 Seiten lange Bericht „Lebenslagen in Deutschland - Armuts- und Reichtumsbericht“ der Bundesregierung. Rot-Grün machte die regelmäßige Berichterstattung über Arm und Reich im Jahr 2001 zur Pflicht.

          In dieser Wahlperiode wird schon der vierte Armutsbericht geschrieben, federführend im Bundesarbeitministerium. Von dort aus sickerte Mitte September ein erster Entwurf durch. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) ließ darin ein recht düsteres Bild von der sozialen Lage im Land zeichnen, von wachsender Ungleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen, von einer gespaltenen Gesellschaft. Versteckt inmitten von Zahlen, Daten und Tabellen hieß es im Bericht schließlich: „Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.“

          „Linksrhetorik pur“

          Doch als „die Bundesregierung“ wollten sich von der Leyens Kabinettskollegen mitnichten vereinnahmen lassen. „Linksrhetorik pur“, schimpfte das CDU-geführte Finanzministerium. Und Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) legte gegen die neue Umverteilungsidee der Sozialpolitikerin umgehend sein Veto ein. In der Öffentlichkeit wurde die Ressortabstimmung über den Armutsbericht rasch auf einen Koalitionskrach zwischen von der Leyen und Rösler verkürzt. Dabei hatte es auch im Arbeitsministerium lautstarken Ärger gegeben, als man sich dort der (im näherrückenden Wahlkampf schädlichen) Wirkung einiger Berichtspassagen bewusst wurde. Ungewohnte Unterstützung erntete von der Leyen derweil aus dem gegnerischen politischen Lager. Diese gipfelte kürzlich in der Grußadresse des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, der die deutlichen Änderungen am Bericht im Bundestag mit den Worten kommentierte, die Regierung habe „eine mutige Ministerin mundtot gemacht“.

          Wer definiert, was arm ist?
          Wer definiert, was arm ist? : Bild: dapd

          Doch der Reihe nach: Der Zwist zwischen Schwarz und Gelb verhinderte die geplante Befassung des Kabinetts mit dem Armutsbericht am 14. November. Stattdessen kam in den trüben Herbsttagen eine nachgebesserte Fassung auf den Markt. Sofort kassiert hatte Rösler mit Zustimmung von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Vermögensbesteuerungsvorschlag. In der Endfassung ist jetzt nur noch vom „freiwilligen Engagement Vermögender“ die Rede. Auch an anderen Stellen hatte der Wirtschaftsminister durch Streichen und Umformulieren von Sätzen und Halbsätzen den Bericht geglättet - und so für einen anderen Zungenschlag gesorgt. In der Lebenslagen-Betrachtung wurde so aus einem halbleeren Glas innerhalb einiger Wochen ein halbvolles.

          Dem Renommee der Bundesregierung war das dennoch nicht von Nutzen: Von der Leyen stand als Verliererin da, der FDP-Mann Rösler als Rächer der Reichen. Moralische Gewinner waren in der öffentlichen Debatte die anderen, die Missstände unverschleiert und unverfälscht dokumentiert haben wollten. Denn wer wollte an der Richtigkeit der Feststellung zweifeln, dass die „Privatvermögen in Deutschland sehr ungleich verteilt“ seien? Die Regierung lieferte die Steilvorlage dafür, dass eine inhaltliche Debatte über den Kern des Berichts - nämlich die Chancen, der Armut durch Arbeit und sozialen Aufstieg zu entgehen - überlagert wurde.

          Weitere Themen

          Leichter zum eigenen Heim

          Immobilienkauf : Leichter zum eigenen Heim

          Steigende Zinsen und höhere Baukosten lassen die Wohnträume vieler Familien zerplatzen. Die Politik könnte ihnen Entlastungen bei der Grunderwerbsteuer verschaffen. Eine konkrete Diskussion darüber nimmt jetzt Fahrt auf.

          Topmeldungen

          Ein Soldat steht vor dem Wrack der abgestürzten Cessna C206

          Vermisste Kinder gefunden : Das Wunder von Kolumbien

          Nach einem Flugzeugabsturz haben sich vier Geschwister über einen Monat durch den kolumbianischen Dschungel geschlagen. Nun wurden sie lebend aufgefunden.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.