
Armutsbericht : Arm auf dem Papier
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Ein Bettler auf dem Fischmarkt in Hamburg Bild: dpa
Die Löhne steigen, der private Konsum kennt kaum noch Grenzen. Trotzdem soll die Armut in Deutschland so groß sein wie noch nie. Möglich macht das ein statistischer Trick.
Armut ist keine Erfindung der Statistiker. Es ist deshalb eine Schande, dass der Armutsbericht, den der Paritätische Wohlfahrtsverband in dieser Woche vorgelegt hat, genau diesen Eindruck hinterlässt. Nie gab es in Deutschland so viele Erwerbstätige wie heute. Die Löhne steigen dank üppiger Tarifabschlüsse auf breiter Front. Die Unternehmen können sich das leisten, weil sie blendende Geschäfte machen. Der private Konsum kennt kaum noch Grenzen. Trotzdem behauptet der Bericht: „Es gibt keinen Zweifel: Die Armut in Deutschland ist auf Rekordhoch.“
Ein statistischer Trick macht es möglich, dass die Armut auf dem Papier zunimmt, obwohl sich die Lebensverhältnisse in Wirklichkeit seit Jahren günstig entwickeln. Denn als arm gilt für den Armutsbericht per Definition, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. In Deutschland lag die auf diese Weise festgelegte Armutsgrenze für ein Ehepaar mit zwei Kindern im Jahr 2013 beispielsweise bei 1873 Euro im Monat. Ob das noch genug oder schon zu wenig ist für ein menschenwürdiges Leben, hängt von vielen Faktoren ab – vor allem von der je nach Wohnort unterschiedliche Höhe der Miete. Sicher dürfte aber sein, dass sich nicht jede vierköpfige Familie als arm bezeichnet, die mit 1873 Euro im Monat auskommt.
Die Krux mit dem „relativen Armutsbegriff“
Dass der Armutsbericht auf regionale und individuelle Unterschiede keine Rücksicht nimmt, ist indes nicht sein größter Fehler. Viel schlimmer sind die absurden Folgen, die der sogenannte „relative Armutsbegriff“ für die Abbildung von wirtschaftlicher Dynamik hat. Denn die 60-Prozent-Grenze, eben die relative Definition von Armut, sorgt dafür, dass es immer Armut geben wird, solange es Unterschiede bei den Einkommen gibt. Verdoppeln sich in einer Gesellschaft alle Einkommen, verdoppelt sich nach dieser Interpretation nämlich automatisch auch die Armutsgrenze – und es gelten genauso viele Menschen als arm wie vorher, auch wenn sie plötzlich viel mehr Geld zur Verfügung haben.
So lösen sich allgemeine Wohlstandsgewinne im Handumdrehen auf. Umgekehrt lässt selbst eine äußerst scharfe Wirtschaftskrise nach diesem Modell die Zahl der Armen nicht steigen. Halbieren sich alle Einkommen, sinkt auch die Armutsgrenze entsprechend – und die Zahl der Armen bleibt in der Statistik unverändert. Das geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Es geht im Armutsbericht also gar nicht um Armut, sondern um Einkommensunterschiede. Auf den ersten Blick mag dieser Ansatz noch nicht einmal ganz abwegig sein: Verhaltensforscher wissen schließlich, dass Menschen ihr eigenes Glück oder Unglück, Erfolg oder Misserfolg nicht für sich genommen, sondern immer im Vergleich mit ihren Freunden, Kollegen, Nachbarn oder Promis bewerten. Problematisch ist es aber, wenn daraus ein Auftrag an die Politik formuliert wird, wie es der Wohlfahrtsverband mit seiner Forderung nach einem höheren Mindestlohn, langfristig aus der Staatskasse geförderten Arbeitsplätzen und mehr Umverteilung zwischen den Bundesländern tut.
Einkommensunterschied wurde zur Armut umgedeutet
An diesem Punkt wird die Vermengung der Begriffe – der Einkommensunterschied ist zur Armut umgedeutet worden – problematisch. Denn dass die Politiker sich etwas einfallen lassen sollen, um den Armen aus ihrer Armut zu helfen, ist nicht nur weitverbreiteter Konsens. Es steht mit dem Sozialstaatsprinzip sogar im Grundgesetz. So viele Unterschiede wie möglich einzuebnen ist jedoch etwas ganz anderes: eine ideologische Position, die zwar Befürworter, aber auch viele Gegner hat.
Der Armutsbericht versucht das zu verschleiern. Den Armen hilft das nicht, im Gegenteil. Denn der Etikettenschwindel hat eine unbeabsichtigte Folge. Wer den Armutsbegriff so inflationär benutzt, entwertet ihn. Plötzlich werden nicht nur die überhöhten Zahlen des Berichts angezweifelt, sondern die Sorgen und Nöte der wirklich Armen. Dafür aber ist Armut – die im Leben, nicht auf dem Papier – eine zu ernste Angelegenheit. Der Wohlfahrtsverband sollte sich eine neue Definition überlegen.
In diesem Artikel ist folgende Korrektur vorgenommen: Ursprünglich hieß es, die Armutsschwelle des Wohlfahrtsverbands liege bei 60 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens. Tatsächlich sind es 60 Prozent des Median-Nettoeinkommens.