Britische Minijobs : Am Nullpunkt des Arbeitsmarkts
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David Cameron könnte von dieser Arbeit nicht leben: McDonald’s beschäftigt 90% seiner Mitarbeiter in Großbritannien mit einem „zero hour contract“. Bild: Reuters
Nur bei Anruf gibt es Arbeit: In Großbritannien werden Arbeiter mit „zero hour contracts“ ausgenutzt. Vom guten wirtschaftlichen Wachstum auf der Insel kommt bei der arbeitenden Bevölkerung nur wenig an.
Hannah ist Anfang zwanzig, letzten Sommer hat die junge Schottin aus Glasgow ihr Musikstudium mit Bestnote abgeschlossen. „Aber einen Job in meinem Berufsfeld zu finden ist trotzdem extrem schwierig“, sagt sie. Deshalb arbeitet Hannah, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung sehen will, jetzt in einem Schnellrestaurant.
Sie hat einen sogenannten Null-Stunden-Arbeitsvertrag: Ihr Chef ruft sie an, wenn er sie braucht. Wenn das Telefon nicht klingelt, bekommt sie auch kein Geld. Ein fester Job und trotzdem kein gesichertes Einkommen – auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist das ganz normal. Gastronomieriesen wie McDonald’s beschäftigen auf der Insel 90 Prozent ihrer Mitarbeiter zu diesen Konditionen.
Die „zero hours contracts“ sind in Großbritannien mit seinem weitgehend deregulierten Arbeitsmarkt seit langem üblich. Doch erst jetzt ist das wachsende Heer der modernen Tagelöhner zu einem Thema geworden, denn auf der Insel tobt der Wahlkampf. Der konservative Premierminister David Cameron gestand kürzlich ein, dass er selbst von einem solchen Job nicht leben könnte. Trotzdem hält er die Arbeitsverhältnisse für richtig. Gegenspieler Ed Miliband von der sozialdemokratischen Labour Party, will sie weitgehend verbieten, sollte er nach dem Wahltag am 7. Mai Premierminister werden. „Wir werden den ausbeuterischen Null-Stunden-Verträgen eine Ende bereiten“, kündigte er an.
Symbol für den freudlosen Wirtschaftsaufschwung
In diesem Thema kristallisiert sich alles, was die Briten stört an dem seltsamen Wirtschaftsaufschwung in ihrem Land – und damit auch an der derzeitigen Regierung: Viele Wähler sind es leid, von Cameron und seinem Finanzminister George Osborne vorgerechnet zu bekommen, wie toll doch die wirtschaftliche Entwicklung auf der Insel im Vergleich zum Rest Europas sei. Denn beim Durchschnittsbürger kommt davon bisher wenig an. Es ist ein Aufschwung light.
Vergangenes Jahr waren die Briten zwar Wachstumsspitzenreiter unter den sieben führenden Industriestaaten der Welt (G7), und die Konjunktur brummt auch weiterhin. Aber die Reallöhne liegen noch immer um fast 10 Prozent niedriger als vor der Finanzkrise im Jahr 2008. „Solche Einbußen hat es in diesem Land seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie gegeben“, sagt der Wirtschaftsprofessor John Van Reenen, Direktor des Centre for Economic Performance an der London School of Economics. Für Cameron rächt sich das im Ringen um die Wählergunst: Trotz strammer Wachstumszahlen aus der Wirtschaft muss er Prognosen zufolge um seine Wiederwahl bangen.
Die Null-Stunden-Jobs sind zum Symbol für den freudlosen Wirtschaftsaufschwung geworden. Im vergangenen Jahr legte die Zahl dieser Arbeitsverträge um 29 Prozent auf 1,8 Millionen Arbeitsverhältnisse zu. Häufig jonglieren die Null-Stunden-Arbeitnehmer mit mehreren Jobs, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In der Gastronomie, im Einzelhandel, aber auch bei Pflegekräften des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS und sogar bei Universitätsdozenten sind sie gang und gäbe. Selbst die britische Königin Elizabeth II beschäftigt im Buckingham Palace Null-Stunden-Tagelöhner.
20 Stunden Arbeit aber keine Wohnung
Es ist nicht ganz einfach, Arbeitnehmer zu finden, die über ihren „zero hours contract“ reden wollen. Die meisten hätten Angst, dass sie ihren Job verlören, heißt es bei britischen Gewerkschaften. Hannah, die junge Schottin im Schnellrestaurant in Glasgow, ist dagegen wütend. Deshalb ist sie zu einem Gespräch bereit: Sie erhält nur den gesetzlichen Mindestlohn von 6,50 Pfund (rund 7,90 Euro) und kommt meistens auf knapp 20 Stunden die Woche, obwohl sie gerne mehr arbeiten würde. „Oft kriege ich bloß eine Schrott-Schicht von zwei Stunden am Tag“, berichtet sie.
Dabei muss sie für den Weg zur Arbeit mit der U-Bahn einmal quer durch Glasgow. „Was soll ich machen?“, fragt sie. „Wenn ich mich beschwere, bekomme ich zur Strafe meine Stundenzahl gekürzt.“ Im Schnitt verdient sie nur rund 120 Pfund in der Woche. Eine eigene Wohnung ist in Glasgow nicht drin, weshalb sie bei ihren Eltern wohnt. In ihrem Absolventenjahrgang an der Musikhochschule sei das die Regel: „Praktisch alle haben heute einen Job mit Null-Stunden-Vertrag.“
Befürworter wie McDonald’s und Cameron verweisen darauf, dass viele Angestellte die flexiblen Arbeitszeiten der Verträge schätzten. Hannah dagegen hätte liebend gerne eine Vollzeitstelle. „Flexibel sind diese Jobs nur für die Arbeitgeber“, sagt sie.
Cameron präsentiert Wahlgeschenke
Die vielen neuen Billigjobs sind die Schattenseite des britischen Aufschwungs: In Großbritannien wurden in den vergangenen fünf Jahren 1,9 Millionen Stellen geschaffen. Der Anteil der Erwerbstätigen ist auf Rekordniveau. Aber auch wenn es sich nicht um Null-Stunden-Jobs handelt, sind diese Stellen in vielen Fällen schlecht bezahlt: Eine Studie im Auftrag der Rowntree Foundation zeigte, dass zwei Drittel der Arbeitslosen, die 2014 Beschäftigung gefunden haben, umgerechnet weniger als 11 Euro die Stunde verdienen. Sie hätten damit trotz Arbeitsplatz Mühe, aus eigener Kraft ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Der Regierungschef hat die Zeichen der Zeit mittlerweile erkannt: Lange redete Cameron im Wahlkampf von Ausgabendisziplin und abstrakten ökonomischen Erfolgszahlen. Doch vergangene Woche präsentierte er einen Gabentisch der Wahlgeschenke: von der Steuerbefreiung für Mindestlohn-Empfänger über kostenlose Kinderbetreuung bis zum Verkauf von Genossenschaftswohnungen an die Mieter zu Schleuderpreisen. Cameron hat jetzt einen neuen Wahlkampfslogan: Seine Konservativen seien „die Partei der hart arbeitenden Bürger“.