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Immobilienenteignung : Plötzlich ist der Sozialismus wieder ganz nah

Schauplatz des Protestes: Wohnhaus in der Karl-Marx-Allee Bild: Imago

In Berlin werden von heute an Unterschriften für die Enteignung von Wohnungsunternehmen gesammelt. Doch nicht nur dort wächst der Protest gegen steigende Mieten.

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          An diesem Samstag beginnt in Berlin eine Unterschriftenaktion, die es in sich hat. Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ will einen Volksentscheid über die Frage herbeiführen, ob private Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in der Hauptstadt enteignet werden sollten. Aus Sicht der Initiatoren ist die Antwort klar: unbedingt. Erst wenn die Wohnungen wieder in staatlicher Hand wären, würden die steigenden Mieten ein Ende haben, argumentieren sie.

          Julia Löhr
          Wirtschaftskorrespondentin in Berlin.

          Was anfangs als verrückte Idee aus der linken Szene belächelt wurde, hat sich zu einem ernsthaft diskutierten politischen Thema entwickelt. In Umfragen finden mehr als die Hälfte der Berliner die Idee zumindest im Grundsatz gut. Längst hat die Enteignungsdebatte auch die Bundespolitik erreicht. Während CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagt: „Das Mittel der Enteignung lehnen wir ab“, ist dies aus dem CSU-geführten Innenministerium in dieser Deutlichkeit nicht zu hören.

          Sie könne die Sorgen der Menschen gut nachvollziehen, sagte die neue für den Bau zuständige Staatssekretärin Anne Katrin Bohle am Freitag, als sie sich der Hauptstadtpresse vorstellte. „Wir gucken alle neidisch nach Wien.“ Dort lebt jeder dritte Bürger in einer günstigen Gemeinde- oder Genossenschaftswohnung. Die FDP wiederum fordert, Artikel 15 – auf den die Enteignungsbefürworter setzen – aus dem Grundgesetz zu streichen. Dieser sei eine Art „Blinddarm“ des Grundgesetzes: „Zwar enthalten, aber nutzlos und im Zweifel ein Entzündungsherd“, sagte der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann.

          Es ist keineswegs so, dass die Mieten in Berlin deutschlandweit der Spitzenreiter sind. Den mit Abstand höchsten Quadratmeterpreis müssen die Münchner zahlen – laut dem Frühjahrsgutachten der Immobilienweisen waren es bei Neuverträgen zuletzt mehr als 16,50 Euro kalt. Auch in Städten wie Stuttgart und Frankfurt ist der Leidensdruck der Mieter mit knapp über oder unter 13 Euro weitaus größer als in Berlin, wo zuletzt im Durchschnitt 10 Euro je Quadratmeter aufgerufen wurden.

          Kein Wunder also, dass auch in anderen Städten an diesem Samstag Menschen gegen den „Mietenwahnsinn“ demonstrieren wollen. Allerdings ist Berlin die Stadt, in der die Mieten in den vergangenen Jahren am stärksten gestiegen sind. Seit 2008 haben sie sich mehr als verdoppelt – eine Folge vieler Zuzügler und weniger Neubauten. Zwar meldete das Münchner Ifo-Institut am Freitag, dass in ganz Deutschland 2018 so viele neue Wohnungen fertig wurden wie lange nicht: erstmals seit 2001 wieder mehr als 300.000. Die Stimmung wurde allerdings dadurch gedämpft, dass die Baupreise abermals gestiegen sind: Laut dem Statistischen Bundesamt lagen sie im Februar 4,8 Prozent über dem Vorjahreswert.

          Überdurchschnittliche viele Mietwohnungen

          In Berlin ist der Protest auch deshalb ausgeprägt, weil dort so viele Haushalte zur Miete leben wie sonst nirgendwo in Deutschland: 85 Prozent der 1,9 Millionen Wohnungen sind vermietet. Mit rund 112.000 Wohnungen ist die Deutsche Wohnen nach den landeseigenen Gesellschaften der größte Vermieter in der Hauptstadt. Danach folgen Vonovia (44.000 Wohnungen), ADO Properties (22.200) und ein halbes Dutzend weiterer Privatunternehmen, die mehr als 3000 Wohnungen in Berlin haben und damit von möglichen Enteignungen betroffen wären. Insgesamt ginge es um rund 240.000 Wohnungen.

          Artikel 15 des Grundgesetzes erlaubt unter bestimmten Bedingungen die Enteignung von Grund und Boden oder Produktionsmitteln. Wohnen sei ein Grundrecht und keine Ware, mit der sich Unternehmen bereichern sollten, sagt die Enteignungsinitiative. Allerdings kam Artikel 15 Verfassungsrechtlern zufolge noch nie zur Anwendung, ein entsprechendes Gesetz wäre für Deutschland also ein Novum.

          Volksentscheid ist nicht bindend

          Dass es dazukommt, ist noch lange nicht gesagt. Zwar halten es viele Beobachter für möglich, dass die nötigen Stimmen für einen Volksentscheid – in einem ersten Schritt 20.000, in einem zweiten 170.000 – in der derzeit aufgeheizten Stimmung zusammenkommen. Doch ob sich, wenn es ernst wird, tatsächlich eine Mehrheit der Berliner für Enteignungen aussprechen würde, ist fraglich. Nach einer Schätzung des Senats würde eine Vergesellschaftung mit Entschädigung das ohnehin hochverschuldete Berlin zwischen 28,8 und 36 Milliarden Euro kosten – Geld, das dann nicht mehr für Kitas, Schulen und Verkehrswege zur Verfügung stünde, vom Bau neuer Sozialwohnungen ganz abgesehen. Das Votum der Wähler ist für den Senat nicht bindend.

          Sollte es tatsächlich zu einem Volksentscheid kommen, würde dies ohnehin Jahre dauern und eher die nächste Landesregierung als die aktuelle rot-rot-grüne Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) betreffen. Diese ist bezüglich der Enteignungen gespalten. Die Linke ist klar dafür, auch in den Reihen der Grünen gibt es viele Sympathien. Müller lehnt Enteignungen ab, seine Partei ist sich da noch nicht so sicher. Für die Vertreter aus der Immobilienwirtschaft kommt allein schon die Diskussion einem „Tabubruch“ gleich. Was Berlin brauche, sei etwas anderes: viele neue Wohnungen.

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