Sozialsystem : Ohne Sozialversicherung kein Kapitalismus
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Otto von Bismarck erfand die erste umfassende Sozialversicherung der Welt Bild: Bundesarchiv
Zwischen 1883 und 1889 führt Bismarck zunächst eine umfassende Krankenversicherung, dann eine Unfall- und schließlich eine Invalidenversicherung ein: Der Grund für den Erfolg der Marktwirtschaft in Deutschland.
„Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.“ So begründete Otto von Bismarck die Einführung der ersten umfassenden Sozialversicherung der Welt im Nachhinein. Es war weder heuchlerisch noch zynisch; es war ehrlich. Denn spätestens seit der Gründerzeit, also dem großen Aufschwung der Industrie in Deutschland, war ein Millionenheer von Proletariern entstanden, das sich von seiner Arbeit bestenfalls so eben ernähren konnte. Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Tod bedrohten die Arbeitsfähigkeit jederzeit. Ohne Erwerbsarbeit aber war an eine menschenwürdige Existenz nicht zu denken – und ein Gesellschaftssystem, das sich um die Menschen nicht kümmerte, konnte kaum Legitimität beanspruchen.
Deshalb war es klug, dass Bismarck im Deutschen Reich zwischen 1883 und 1889 daher zunächst eine umfassende Krankenversicherung einführte, sodann eine Unfall- und schließlich eine Invalidenversicherung. Die Leistungen waren in der Tat, gemessen an heutigen Verhältnissen, zumindest im Fall der Invalidenversicherung gering. Ein Anspruch bestand erst mit 70 Jahren, und die Rente war lediglich ein Zuschuss zu den Lebenshaltungskosten. Die Vorstellung, die Rente solle die gesamten Lebenshaltungskosten decken, kam zwar bereits in der Zwischenkriegszeit auf; doch erst mit Adenauers Rentenreform von 1957 wurde sie Realität. Seither besteht das uns heute bekannte System einer umfassenden Sozialversicherung.
Keine tragfähigen privaten Alternativen
Diese Art der sozialen Sicherung war keine deutsche Spezialität, sondern eine logische Folge der sich im 19. Jahrhundert massenhaft ausbreitenden Industriearbeit und der mit ihr verbundenen spezifischen Risiken. Andere Länder führten zu anderen Zeitpunkten andere Formen der Sicherung ein, doch deren Aufgabe war ähnlich: die Arbeiter davor zu schützen, dass sie für eine gewisse Zeit oder dauerhaft erwerbsunfähig werden.
Ohne die Sozialversicherung hätte immer wieder eine Massenverelendung gedroht, wie sie die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts kennzeichnete – mit unabsehbaren ökonomischen und politischen Folgen. Die „Lage der arbeitenden Klasse in England“, wie sie von Friedrich Engels am englischen Fall dargestellt wurde, war so schlecht, dass insbesondere auf dem europäischen Festland nach 1850 nach und nach eine radikale Arbeiterbewegung entstand, die auf eine Revolution hoffte. Die Sozialversicherung war daher eine geradezu zwingende Folge des Kapitalismus und machte ihn gleichzeitig erst überlebensfähig – dabei stabilisierte sie gleichzeitig die Kaufkraft der Massen, hatte also auch positive wirtschaftliche Bedeutung.