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Kommentar : Was, wenn die Europäer sich vereinigen?

Martin Schulz Bild: dpa

Die „Vereinigten Staaten von Europa“ gelten als illusionäre Idee. Aber Vorsicht: Staatenbünde können viele Formen annehmen. Gut möglich, dass am Ende eine tiefere Integration steht.

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          Die Sache funktionierte nicht richtig, im Grunde war es eine einzige Qual. „Die dreizehn Vereinigten Staaten von Amerika“ hatten zwar schon 1776 ihre Unabhängigkeit vom britischen Mutterland erklärt, ihre Gemeinschaft also über die Abgrenzung von einem äußeren Gegner definiert. Über handlungsfähige politische Institutionen verfügten sie freilich nicht. Die Zentralgewalt oblag einem zerstrittenen „Kontinentalkongress“, der mangels Anwesenheit oft gar nicht beschlussfähig war. Das forsch eingeführte neue Papiergeld, ein „Kontinental-Dollar“, geriet bald in die Krise.

          Weil es so nicht mehr weiterging, trat 1787 in Philadelphia eine Versammlung zusammen, um über ein paar nötige Reparaturarbeiten für amerikanische Union und Dollarraum zu beraten. Vier Monate lang saßen die Entsandten der Einzelstaaten beisammen, heftige publizistische Fehden wurden geführt. Am Ende stand eine neue Verfassung, die den Staatenbund in einen Bundesstaat verwandelte. Gesetze sollten nur in Kraft treten, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung und der Mitgliedstaaten sie befürworteten, dafür sorgte ein Zweikammerparlament. Sogar ein richtiges Staatsoberhaupt sollte es nun geben, „Präsident“ genannt, über ein Gremium von Wahlleuten alle vier Jahre indirekt gewählt.

          Schulz' Pläne gelten als illusionär

          So etwas mag Martin Schulz vorgeschwebt haben, als er den Sozialdemokraten vergangene Woche die „Vereinigten Staaten von Europa“ versprach – ein Schlagwort, das er dem SPD-Programm von 1925 entnahm, auch wenn es seit Adenauer und Churchill eher ein konservatives Projekt wurde. Irgendwie musste er das Thema noch zuspitzen, mag sich der SPD-Vorsitzende gedacht haben. Dass Europa die Brücke sein würde, über die Deutschlands Sozialdemokraten den selbstgebuddelten Graben zur neuerlichen Regierungsbeteiligung überschreiten würden, war ja seit längerem klar. Aber was wäre das „Projekt“? Den Laden zusammenhalten? Auf den französischen Präsidenten zugehen? Das reichte nicht.

          Was Schulz dann aussprach, gilt in Berlin und vielen anderen Hauptstädten allerdings als einigermaßen illusionär: Die große Rhetorik wecke nur neue Widerstände bei Europaskeptikern, bei den Befürwortern werde sie am Ende nur enttäuschte Hoffnungen hinterlassen. Und eine neue Verfassung samt der nötigen Volksabstimmungen gelten ohnehin als zu riskant, spätestens seit dem Brexit – auch wenn es viele durchaus charmant fänden, ökonomische Trittbrettfahrer wie die Regierungen in Warschau oder Budapest endlich zu einem klaren Bekenntnis zu zwingen. Von ihrer Austrittsrhetorik sind viele rechtspopulistische Bewegungen auf dem Kontinent ja schon abgerückt, mangels Rückhalt in der Bevölkerung.

          Dabei sagt der Begriff der „Vereinigten Staaten“, wie nicht nur das amerikanische Beispiel zeigt, über die künftige Struktur Europas noch relativ wenig aus. Jedes Mal, wenn sich verschiedene Staaten in der Geschichte zu einer größeren Einheit zusammenschlossen, war das Arrangement ein anderes. Das Deutsche Kaiserreich, ein Fürstenbund, führte einen ganzen Weltkrieg zwar mit gemeinsamem Oberbefehl, aber ohne eigenes Heer. Auf dem Schweizer Großflughafen Zürich ist die Kantonspolizei für die Sicherung der Außengrenze zuständig. Amerika überlässt den Einzelstaaten die Arbeitslosenversicherung, gewährt ihnen aber Hilfskredite bei besonderen wirtschaftlichen Krisen.

          Um solche Fragen wird es 2018 auch in Europa gehen: Wie organisiert der Kontinent seine gemeinsame Verteidigung, sichere Außengrenzen (samt Asylregeln und Flüchtlingsverteilung), die Stabilisierung der Währung gegen künftige Krisen? Machen alle mit, wie es Juncker will, oder nur einige, was Macron verficht? Die Einigkeit über die Ziele ist groß, für die Mittel gilt das schon weniger. Was am Ende dabei herauskommt, mag – wie einst in Philadelphia – durchaus ein Schritt in Richtung auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ sein. Auch wenn die Mehrzahl der Politiker das Wort vermeiden wird.

          Ralph Bollmann
          Korrespondent für Wirtschaftspolitik und stellvertretender Leiter Wirtschaft und „Geld & Mehr“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

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