Hanks Welt : Lindners Liberalismus
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Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verteidigt im Bundestag den von der Union kritisierten Nachtragshaushalt. Bild: dpa
Wie der FDP-Chef die Freiheit verrät. Und warum sich Freiheit gerade nicht in einer Gesamtbilanz saldieren lässt.
Als am 10. Dezember der Bundestag eine Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes unter anderem mit einer Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen diskutierte, fand die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP Christine Aschenberg-Dugnus dafür eine Begründung, die aufhorchen lässt. Sie sagte, „die Gesamt-Freiheitsbilanz“ des Gesetzes bringe positive Effekte.
Was meint sie mit der „Gesamt-Freiheitsbilanz“? Offenkundig werden Freiheiten einer Gruppe (der Alten oder Kranken und ihrer Angehörigen) addiert, und davon wird dann der Impfzwang für Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger abgezogen. Wenn dann im Saldo mehr Freiheiten geschützt als Zwangsmaßnahmen verordnet werden, ist offenbar die „Gesamt-Freiheitsbilanz“ positiv. Der Trick besteht darin, den Impfzwang sprachlich zu unterschlagen und die gesetzliche Maßnahme insgesamt als Ausdruck einer Freiheitsentscheidung zu vermarkten.
Wenn die Freiheit von zehn Menschen mit der Unfreiheit von fünf Menschen erkauft wird, dann mag das nötig oder gar verhältnismäßig sein, darüber will ich hier gar nicht urteilen. Aber es bleibt eine Zwangshandlung, welche die Freiheit der Minderheit einschränkt.
Freiheit lässt sich nicht saldieren
Dass die Partei, die sich die Freiheit in ihren Namen und ihr Programm geschrieben hat, die Leute für dumm verkauft und meint, sie merkten das nicht, erfüllt mich mit Sorge. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich habe größte Mühe zu verstehen, warum Menschen sich nicht impfen lassen. Ich finde, Impfen schützt mich und andere vor Corona.
Doch so ist das mit der Freiheit der anderen: Sie muss als Freiheit gerade dann respektiert werden, wenn ich die Handlung und die ihr zugrunde liegende Haltung nicht teile oder billige. Wann, wenn nicht hier, hat das überstrapazierte Diktum Rosa Luxemburgs sein Recht: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“ Freiheit lässt sich gerade nicht in einer Gesamtbilanz saldieren.
Wie konnte den Freien Demokraten so etwas passieren? Das ist leicht erklärt. Die FDP hat sich bekanntlich in den Ampel-Verhandlungen besonders stark gemacht für einen „Freedom Day“, mit dem die „pandemische Lage von nationaler Tragweite“ auslaufen sollte. Das passierte blöderweise zu jenem Zeitpunkt, als die Inzidenzahlen wieder exponentiell nach oben schossen. Die Ampel sah sich zum Zurückrudern gezwungen, womit sich wiederum die FDP den hämischen Vorwurf einhandelte, da sehe man, was deren Freiheitsideologie anrichte: Sie gefährde Menschenleben. Als Abwehrreaktion setzten die Freidemokraten nun alles daran, ihre Kehrtwende als Ausdruck von Freiheit zu interpretieren.
„Freiheit ist Freiheit“
Wenn die FDP den Freiheitsbegriff derart verwässert, dass er sogar sein Gegenteil unter sich subsumiert, verrät sie den Wert der Freiheit an sich. Dafür muss man sich nur die Interviews anschauen, die der Parteivorsitzende und Finanzminister Christian Lindner in jüngster Zeit gegeben hat. In der F.A.Z. sprach Lindner Anfang Dezember von der „staatlichen Verantwortungsgemeinschaft“, die jetzt flexibel reagieren müsse. Da zeigt sich ein autoritäres Staats- und Gemeinschaftsverständnis, das einem Liberalen nicht unterkommen dürfte. In einem Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ ein paar Tage zuvor nannte er als obersten Wert seiner Partei die Idee einer „in Verantwortung gebundenen Freiheit“, was nichts anderes als ein Dementi der Freiheit ist. Wer erlaubt sich, die Freiheit zu „binden“? Wer definiert, was Verantwortung ist. Die Regierung? Das Parlament? Der General an der Spitze des neuen Expertenrats?
In Lindners Büro hingen einmal Porträts von Friedrich A. von Hayek und Ralf Dahrendorf, seinen liberalen Vorbildern. Ob diese Heroen mit ins Finanzministerium umziehen durften, weiß ich nicht. Dahrendorfs Definition der Freiheit geht so: „Freiheit ist Freiheit, nicht Gleichheit oder Fairness oder Gerechtigkeit oder Kultur oder menschliches Glück oder ein ruhiges Gewissen.“ Das heißt nicht, dass Gleichheit oder Gerechtigkeit mindere Werte seien. Es gebietet womöglich sogar der Blick auf die Verhältnismäßigkeit, zwischen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit abzuwägen. Doch Dahrendorfs Definition verbietet den Etikettenschwindel der „in Verantwortung gebundenen Freiheit“. Eine solche „positive“ Freiheit, wie Isaiah Berlin das nennt, wurde in der Geschichte allemal dazu missbraucht, paternalistische, etatistische, nationalistische oder totalitäre Glaubensbekenntnisse zu rechtfertigen.
Aus Angst vor der Desavouierung ihres Freiheitsbegriffs als egoistisch und empathielos ist die FDP dabei, den Freiheitsbegriff aufzugeben. Das äußert sich schon jetzt in der Debatte über die allgemeine Impfpflicht. Es ist atemberaubend zu sehen, wie gerade Lindner, der sich mit Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen noch im Juli dagegen aussprach, jetzt sagt, er „tendiere zu einer Impfpflicht“. Als ob die Hartnäckigkeit der Impfgegner im Sommer noch nicht zu sehen gewesen wäre! Wenn die Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Mittel sich in vier Monaten ändert und eine Konversion nötig macht, würde man dafür doch gerne Argumente hören und nicht nur das diffuse Gefühl, es gehe jetzt eben darum, die Leute zum Impfen zu zwingen.
Das „Erzwingen von Solidarität als Grundlage einer allgemeinen Freiheitsausübung“ sei kein Kriterium zur Rechtfertigung einer Impfpflicht, schrieb der Verfassungsjurist Oliver Lepsius kürzlich in der F.A.Z. mit Bezug auf das Bundesnotbremsenurteil des Verfassungsgerichts. Die FDP ist gerade dabei, sich am pandemischen Umbau des Rechtsstaates zu beteiligen, in welchem „Freiheit durch die Gesundheit bewirtschaftet wird“, so Lepsius.
Wenn vom Verfassungsgericht keine Hilfe zur Wahrung der Freiheit zu erwarten ist, müsste gerade die FDP in die Bresche springen. Doch nach allem, was man derzeit hört und liest, lassen sich auch die Freien Demokraten für tektonische Verschiebungen einspannen: weg von individuellen Freiheitsrechten, hin zum Recht der Gemeinschaft, so die Rechtsprofessorin Anna Katharina Mangold in der „Süddeutschen Zeitung“. Lindners Wort von der „staatlichen Verantwortungsgemeinschaft“ zeigt die gefährliche Richtung dieser Verschiebung: Sie verrät die Freiheit.