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Hanks Welt : Warum liegen so viele Corona-Prognosen daneben?

Corona-Prognosen liegen oben daneben, denn „Bias“ und „Noise“ verzerren unsere Entscheidungen. Bild: Rainer Wohlfahrt

Prognosen zum Verlauf der Corona-Pandemie liegen weit auseinander – und am Ende oft daneben. Doch warum ziehen Fachleute auf ein und derselben Faktengrundlage komplett andere Schlussfolgerungen?

          3 Min.

          Corona-Prognosen liegen weit auseinander – und am Ende häufig daneben. Vor der Bundes-Notbremse hatten die Pessimisten Oberwasser. Sie prophezeiten einen dramatischen Anstieg der Todesfälle. Tatsächlich gab es die meisten Corona-Toten am 22. Januar mit 819 Fällen. Am 21. April, dem Tag vor Inkrafttreten der Bremse, waren es 331. Natürlich: Jeder Tote ist einer zu viel.

          Rainer Hank
          Freier Autor in der Wirtschaft der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

          Doch aus der rücklaufenden Todesrate lässt sich schwerlich ein Argument machen für eine Verschärfung der Maßnahmen. Im Februar 2021 verzeichnete Deutschland eine Untersterblichkeit, also im Saldo weniger Tote als in den Jahren 2016 bis 2019. Akademische Häretiker wie der Mainzer Epidemiologe Sucharit Bhakdi ärgern den Mainstream mit solchen Vergleichen schon seit Monaten. Die schlimmsten Wochen waren die Tage rund um Weihnachten 2020. Von da an ging es uns besser. Die Notbremse wurde gezogen, als der Infektionszug längst in die richtige Richtung rollte.

          Warum treffen wir völlig unterschiedliche Entscheidungen auf ein und derselben Faktengrundlage? Wieso kommen zwei Fachleute, die über identische Informationen verfügen, zu komplett anderen Schlussfolgerungen? Und warum kann sogar ein Experte in Windeseile seine Meinungen ändern, wie etwa der Bundeshauptvirologe Christian Drosten, der, vom Pessimisten zum Optimisten gemausert, uns jetzt einen großartigen Sommer verspricht? Das sei auf die vielen Impfungen zurückzuführen, von denen es noch Ende April hieß, davon dürfe man sich keinesfalls eine rasche Entspannung erhoffen.

          Was unsere Entscheidungen verzerrt

          Spannende Antworten auf unsere Fragen bietet das neue Buch des Psychologen und Ökonomienobelpreisträgers Daniel Kahneman, das, gemeinsam verfasst mit Olivier Sibony und Cass Sun­stein, gerade unter dem Titel „Noise“ erschienen ist. Es geht Kahneman darum, „was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können“. Kahneman ist Mitbegründer der Verhaltensökonomie.

          Die steht für die Erkenntnis, dass die Menschen sich weitaus weniger rational verhalten, als sie es selbst gerne täten. Nur zum Beispiel: Wir verschieben wichtige Entscheidungen oder neigen dazu, uns permanent selbst zu überschätzen. Wir können für unser Versagen sogar rationale Gründe anführen. Kahneman nennt dies „Bias“, eine konsistente Abweichung von einem Ziel. „Bias“ ist unserer ganzen Gattung eigen.

          Bei „Noise“, Kahnemans aktuellem Fokus, ist keine Gesetzmäßigkeit hinter den Fehlern zu erkennen. Die Streuung der Treffer ist breit. Es sind „nicht vorhersagbare Fehler“: In unserer Grafik ist der Unterschied von „Bias“ und „Noise“ am Beispiel von Einschüssen auf einer Zielscheibe dargestellt. „Bias“ zeigt eine regelhafte Abweichung nach links unten. „Noise“ ist eine chaotische Streuung fehlgeschlagener Treffer; das Ergebnis ist „verrauscht“ oder „noisy“. Im vierten Schaubild haben die Schützen systematisch danebengeschossen, ihre Treffer sind aber weiterhin breit gestreut („Bias“ und „Noise“).

          „Bias“ ist längst bekannt; „Noise“ wird übersehen, unterschätzt, geleugnet. Wir tun so, als ob alle Wissenschaftler in ihren Urteilen übereinkommen müssten, weil sie doch alle die gleichen Fakten interpretieren und daraus Handlungsanweisungen ableiten. Abweichler werden „gecancelt“, am Ende stigmatisiert. „Das Unwissen wird geleugnet“, schreibt Kahneman – denn es wäre für den Wissenschaftler eine schwere Kränkung.

          Unabhängigkeit ist wichtig

          Menschen meinen, dass ihre Mitmenschen die Welt genauso sehen wie sie selbst. Kahneman hat viele Beispiele für den Schaden, den „Noise“ anrichtet. Straffällig gewordene Menschen erhalten für genau dieselbe Straftat völlig unterschiedliche Strafmaße – eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren der eine, der andere bleibt zur Bewährung frei. Der eine Richter setzt auf Resozialisierung und verhängt eine milde Strafe, der andere setzt auf Abschreckung und geht an die obere Grenze. Stimmungen sind wichtig: Am Montag nach einer Niederlage der lokalen Footballmannschaft neigen Richter dazu, härtere Strafen zu verhängen.

          In Versicherungen berechnen sogenannte Underwriter die Prämien für die Policen. Sie selbst meinen, eine Abweichung der Prämienkalkulation von 10 Prozent sei üblich und tolerabel. In Wirklichkeit kommt Kahneman auf Unterschiede von 55 Prozent. Wenn der eine Underwriter eine Prämie von 9500 Dollar festsetzt, kostet der Vertrag beim zweiten 16.700 Dollar (und nicht nur 10.500 Dollar). Wohlgemerkt: Beide berechnen aufgrund identischer Daten, nutzen dieselben Risikomodelle. Zu niedrige Prämien führen in die Pleite. Bei zu hohen Prämien wandern die Kunden ab. Diagnosen von Ärzten weichen ähnlich breit gestreut voneinander ab. Entsprechend unterscheiden sich die Therapien. Es ist eine Lotterie, die über Schicksale von Menschen entscheidet.

          Zurück zu Corona: Die Abweichungen der Experten sind sowohl von „Bias“ wie von „Noise“ geprägt. Direkt oder indirekt im Auftrag der Regierung arbeitende Fachleute tendieren je nach politischem Ziel zu Optimismus oder Pessimismus („Bias“). Mediziner konzentrieren sich auf die Gesundheit; Sozialwissenschaftler raten zu breiteren Kosten-Nutzen-Erwägungen. Daraus folgt eine „Noise“-Streuung.

          Wer die Welt verbessern will, muss „Noise“ reduzieren. Kahneman hat kein Patentrezept dafür. Doch seine Empfehlungen haben es in sich: „Noise“ nicht zu verleugnen wäre schon viel. Alle Urteile sollen in ihrer ganzen Streuung unabhängig voneinander transparent werden („Noise-Audit“). Unabhängigkeit ist wichtig. Denn Teambildung, in Corona-Zeiten sehr beliebt, verstärkt leider den „Noise“-Effekt: Pessimisten und Optimisten radikalisieren sich gegeneinander. Intuition ist genauso gefährlich wie die Dominanz von Herrschaftswissen. „Betrachten Sie den Fall aus der Außenperspektive“, rät Kahneman: „Versuchen Sie, gegen sich selbst zu denken!“ Das ist nicht leicht, aber es lohnt sich: Skepsis und Bescheidenheit müssten sich mit­einander verbünden.

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