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Ängste, Erwartungen, Vergütung : Warum so viele Operationen unnötig sind

Eingriff an einer Klinik in Hamburg Bild: dpa

In Deutschland werden viele überflüssige Untersuchungen und Eingriffe vorgenommen. Sie können den Patienten sogar schaden. Eine neue Untersuchung zeigt, wie es dazu kommt.

          3 Min.

          Ob beim Gynäkologen oder beim Augenarzt: Patienten werden in Deutschland gerne privat zu bezahlende Zusatzleistungen angeboten. Der gesundheitliche Nutzen dieser sogenannten Igel-Leistungen ist zumindest umstritten. Die Krankenkassen mahnen regelmäßig zur Vorsicht, weil der Schaden den Nutzen überwiegen könne. Ein Beispiel: Die Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke zur Krebsfrüherkennung. Hier kann es zu sogenannten falsch-positiven Diagnosen kommen, die nicht nur psychisch belastend sind, sondern auch unnötige Eingriffe nach sich ziehen.

          Britta Beeger
          Redakteurin in der Wirtschaft und zuständig für „Die Lounge“.

          Die Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke ist nur ein Beispiel für medizinische Leistungen, die unter dem Stichwort Überversorgung diskutiert werden – also als nicht notwendig erachtet werden und den Patienten sogar schaden können. Auch zu häufig verabreichte Medikamente, riskante Therapien, überflüssige Operationen und lebensverlängernde Maßnahmen um jeden Preis zählen dazu.

          Als Ursache werden oft die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens gesehen, etwa falsche Vergütungsanreize für Ärzte und Kliniken oder die (zu) vielen kleinen Krankenhäuser, die alle versuchen, sich finanziell über Wasser zu halten. Eine nun veröffentlichte Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung legt nahe, dass das nicht alles ist. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Erwartungen und Einstellungen von Ärzten und Patienten ebenfalls eine große Rolle spielen.

          Schilddrüse, Magensäure, Dialyse

          Die Bertelsmann-Stiftung hat das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung damit beauftragt, Beispiele für zu häufig erbrachte medizinische Leistungen zusammenzutragen. Neben der Ultraschalluntersuchung der Eierstöcke führt das Institut auch Schilddrüsenoperationen an. Fachleute sähen einen Teil der Eingriffe als vermeidbar an und bemängelten, die diagnostischen Möglichkeiten würden nicht ausgeschöpft, heißt es in der Zusammenstellung. In 90 Prozent der Fälle lägen keine bösartigen Veränderungen vor.

          Oder Magensäureblocker: Sie zählen zu den am häufigsten verordneten Medikamenten, der Untersuchung zufolge jedoch oft ohne klare Indikation. Dabei sei die Einnahme mit vielfältigen möglichen Schäden verbunden, schreiben die Autoren.

          Als weitere Beispiele werden bildgebende Verfahren bei unspezifischen Rückenschmerzen, der Einsatz von Defibrillatoren sowie die Versorgung am Lebensende genannt, also Reanimationen oder Dialyse. Auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen war in seinem jüngsten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, dass es in Deutschland neben Unterversorgung in einigen Bereichen (pflegerische oder palliativmedizinische Betreuung schwerkranker Menschen) eine Überversorgung in anderen Bereichen gibt (bestimmte Wirbelkörperoperationen oder Herzkatheter).

          Ärzte kennen die Erwartungen der Patienten

          Bertelsmann hat aufbauend auf diesen Ergebnissen das Kölner Marktforschungsinstitut Rheingold beauftragt, mit 24 Patienten und 15 Ärzten Tiefeninterviews zu führen. Das Bielefelder Marktforschungsinstitut Kantar hat zudem eine breiter angelegte Bevölkerungsbefragung vorgenommen. Das Ergebnis: Viele Menschen haben durchaus ein Bewusstsein dafür, dass in Kliniken oder Arztpraxen oft überflüssige medizinische Leistungen erbracht werden. Mehr als die Hälfte gibt an, das sei ihrer Einschätzung nach oft oder sehr oft der Fall.

          Zugleich zeigen aber die Tiefeninterviews, dass vielen Patienten nicht klar ist, dass sie solche Untersuchungen, Therapien oder Medikamente selbst schon einmal erhalten oder eingefordert haben. Vor allem im Bereich der Diagnostik fehlt demnach das Bewusstsein für mögliche Risiken durch falsch-positive Befunde oder eventuell unnötige Folgebehandlungen. Kritischer werden die Patienten lediglich, wenn es um Operationen geht.

          Woran liegt das? Die Interviews zeigen, dass sowohl die Ärzte als auch die Patienten mit Ungewissheit schwer umgehen können. Im Zweifel wollen sie lieber nichts unentdeckt und unversucht lassen, was zu Aktionismus führt. Jede Therapie gilt als besser als Abwarten und Nichtstun – diese Haltung wird auch durch die Bevölkerungsbefragung gestützt: 56 Prozent stimmten einer entsprechenden Aussage zu.

          Die Patienten gaben in den Tiefeninterviews an, sich abgefertigt und schlecht behandelt zu fühlen, wenn ein Arzt sich zu wenig Zeit für Erklärungen nimmt oder keine medizinischen Maßnahmen einleitet. Den Ärzten wiederum sind diese Erwartungen bewusst. Einige versuchen, ihre Patienten davon zu überzeugen, dass bestimmte Untersuchungen oder Medikamente in ihrem Fall nicht nötig sind. Andere geben nach – auch aus Zeitdruck (die Aufklärung über den geringen oder fehlenden Nutzen und mögliche Schäden ist oft aufwändiger) und um negative Beurteilungen in Arztbewertungsportalen zu vermeiden.

          Manche Ärzte begründen den Hang zur Überversorgung zudem mit der eigenen Absicherung: Hier geht es um rechtliche Konsequenzen, aber auch um Schuldgefühle. Darüber hinaus spielen finanzieller Druck und das eigene Einkommen eine Rolle, wenn Ärzte Patienten nicht notwendige Maßnahmen anbieten.

          Was kann man da tun? In der Politik und im Gesundheitswesen werden schon seit Jahren Maßnahmen diskutiert, um die Überversorgung abzubauen – etwa das Schließen eines Teils der Krankenhäuser und eine stringentere Ausrichtung auf die Versorgungsqualität. Der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen etwa empfiehlt eine entschlossenere, bedarfsorientierte Steuerung sowie Anpassungen in der Vergütung. Sie solle stärker an der Qualität der Behandlung ausgerichtet sein, als an der Quantität.

          Diesen Forderungen schließt sich die Studie weitgehend an. Ärzte müssten Verantwortung übernehmen und mit ihren Patienten Nutzen und Risiken bestimmter Behandlungsoptionen besprechen, heißt es darin. Wenig vielversprechende Maßnahmen sollten sie unterlassen. Zudem müsse die Bevölkerung sensibilisiert werden, dass es besser sein kann und genauso viel Fürsorge bedeutet, wenn eine medizinische Maßnahme unterlassen wird.

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