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Kommentar : Virtuelle Wunschträume

  • -Aktualisiert am

Facebook-Mitarbeiter mit Oculus-Brillen in Berlin. Bild: dpa

Der Datenbrillenhersteller Oculus zeigt, was heute mit virtueller Realität möglich ist. Ob die Technik den Massenmarkt erobert, bleibt aber fragwürdig.

          3 Min.

          Die Einrichtung des Orts, der den Zugang zur virtuellen Realität der Zukunft verspricht, könnte nicht weiter weg von diesem Versprechen sein. Die Wände des Raums, mit dem der Datenbrillenhersteller Oculus jetzt in Berlin gastierte, sind gepflastert mit schalldämpfenden Schaumstoffpyramiden. Auf dem Boden liegt eine quadratmetergroße Gummimatte. Über einen Bildschirm neben der Tür flimmern Programmzeilen. In dieser für Klaustrophobiker ungeeigneten Kammer soll der Besucher virtuell eintauchen in alle erdenklichen Welten.

          Toybox heißt der Raum, Spielkiste. Das zum sozialen Netzwerk Facebook gehörende Unternehmen Oculus hat ihn aufgebaut, um abzubilden, was heute mit virtueller Realität möglich ist. Und tatsächlich: Wer dort die mit dem Computer verbundene Datenbrille über die Augen zieht und die an Steuergeräte für Spielkonsolen erinnernden kabellosen Kontrollknöpfe in die Hände nimmt, vergisst schnell die paar Quadratmeter um sich herum. Er spielt mit einem Gegenüber im Nachbarzimmer virtuelles Tischtennis, zündet virtuelle Knallfrösche oder erlebt virtuell Schwerelosigkeit – Schwindel und flaues Gefühl im Magen inklusive.

          Smartphone für 5 Euro

          Ohne Frage, das Erlebnis in dem Spielzimmer ist beeindruckend. Immersion heißt das Stichwort, es beschreibt das vollkommene Eintauchen in eine virtuelle Welt. Der Tester hat zumindest für einige Augenblicke das Gefühl, nicht mehr in der Kammer zu stehen, sondern ganz woanders zu sein. Im Falle der totalen Immersion vergisst er sogar sich selbst, schlüpft in eine andere Rolle und identifiziert sich damit. Immersion, so sehen es ihre Befürworter, soll die Weltflucht des 21. Jahrhunderts sein.

          Das Wort „Immersion“ führten vergangene Woche auch zahlreiche Handyhersteller während der Mobilfunkmesse Mobile World Congress in Barcelona im Munde. Allerdings nicht, weil sie den Menschen aus seinem mutmaßlich langweiligen Alltag befreien wollen. Sie verwendeten es eher, weil sie vor einer sich nun schon länger abzeichnenden Herausforderung stehen.

          Das Wachstum der Verkaufszahlen für internetfähige Mobiltelefone ist in entwickelten Ländern zum Erliegen gekommen. Dort hat schon jetzt jeder ein Smartphone in der Hosentasche. In Schwellen- und Entwicklungsländern kann sich nur eine Minderheit teure Vorzeigemodelle von Herstellern wie Apple, Samsung oder HTC mit Preisen jenseits der 500 Euro leisten. In Indien soll angeblich bald ein Smartphone auf den Markt kommen, das nicht einmal mehr 5 Euro kostet. Damit lassen sich keine Milliardengewinne erwirtschaften. Die Mobiltelefonproduzenten brauchen eine neue Wachstumsgeschichte, und das Trendthema virtuelle Realität soll sie liefern.

          Mangel an Anwendungen für die Massen

          Ob die künstlichen Welten dies tatsächlich schaffen, ist aus mehreren Gründen fraglich. Da ist zum einen etwas, was man als Fluch der wiederholten Ankündigung bezeichnen kann. Nicht zum ersten Mal soll die virtuelle Realität kurz vor dem Durchbruch stehen. Der vorerst letzte Versuch liegt schon 13 Jahre zurück und hieß „Second Life“. Das hoch bewertete Start-up versuchte, eine virtuelle Welt aufzubauen, in der Nutzer auf dem Computerbildschirm ein zweites Leben führen konnten, weitab von Zwängen des Alltags. Allein: Wer heute Bekannte fragt, ob sie Second Life nutzen, erhält ratloses Achselzucken. Doch gibt es noch handfestere Gründe, die gegen einen Siegeszug der virtuellen Realität sprechen, zum Beispiel den Preis. Die Datenbrille des taiwanischen Konzerns HTC soll 699 Euro kosten. Wie viel das in Barcelona präsentierte Gerät des Konkurrenten LG kosten soll, ist offen.

          Noch schwerer wiegt indes der Mangel an Anwendungen. So schön es sein mag, virtuelles Pingpong zu spielen – es wird nicht reichen, um einen Massenmarkt zu finden. Auch ein von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zuletzt immer wieder vorgebrachtes Nutzungsszenario verfängt kaum. Er wolle die ersten Schritte seiner vor kurzem geborenen Tochter mit einer Rundumkamera filmen, um sie dann Verwandten als Anwendung der virtuellen Realität zu präsentieren – am besten gleich auf den Datenbrillen seines Milliardenzukaufs Oculus.

          Datenbrille aus Pappe zum Sparpreis

          Doch werden solche Aussichten auch jedermann überzeugen? Nicht umsonst jedenfalls hört man verlässlich lediglich von zwei Branchen, die sich wirklich ausnahmslos auf die virtuelle Realität freuen und schon fleißig erste Anwendungen durchdenken und programmieren: den Computerspieleherstellern und der Pornofilmindustrie.

          Vieles spricht dafür, dass am Ende nicht die vollkommen virtuelle Realität mit ihren klobigen, unhandlichen Datenbrillen den Massenmarkt erobern wird, sondern ein etwas niedrigschwelligeres Angebot, quasi virtuelle Realität zum Hausgebrauch. Mit ihr lassen sich zum Beispiel Museen oder Bauwerke am anderen Ende der Welt per 360-Grad-Rundgang besuchen. Das könnte wiederum Unternehmen wie dem Suchmaschinenkonzern Google in die Hände spielen. Auch er bietet schon jetzt eine Datenbrille an. Dabei fungiert das Smartphone des Nutzers als Bildschirm, der einfach in die Brille geschoben wird. Diese Brille kostet weniger als 20 Euro – und besteht aus Pappe.

          Martin Gropp
          Redakteur in der Wirtschaft.

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