Energieversorger in der Krise : Die letzten Tage von RWE
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Noch rauchen die Schornsteine und dampfen die Kühltürme des RWE-Braunkohlekraftwerks Niederaußern. Nur wie lange noch? Bild: dpa
Deutschlands größter Stromerzeuger ist zum Pleitekandidaten geworden. Der Brexit könnte ihm den Rest geben. Was sind die Aussichten des Konzerns?
RWE hat keine Zukunft mehr. Das gibt Deutschlands größter Stromerzeuger, anno 1898 als Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk in Essen gegründet, inzwischen sogar selbst zu. Für neue Geschäftsfelder, neue Ideen, neue Technologien, mithin die Zukunft, ist nach den Plänen des Vorstandsvorsitzenden Peter Terium künftig nicht mehr der traditionsreiche Dax-Konzern zuständig, sondern eine neue Firma, die bis zum Jahresende an die Börse kommen soll.
Es ist die schiere Not, die hinter dem Vorhaben steckt. Denn RWE braucht Geld, sehr viel und ziemlich bald. Vor allem für den Atomausstieg. Gut 10 Milliarden Euro sind dafür schon zurückgestellt. Doch das wird kaum genügen. Die zusätzlich benötigten Mittel soll der Börsengang bringen. Noch mehr Schulden können die Essener schlecht machen. Es lasten schon 45 Milliarden Euro langfristige Verbindlichkeiten auf der Bilanz, fast das Achtfache des Eigenkapitals, eine bedrohliche Quote, die Ratingagenturen stufen RWE knapp über „Ramsch“ ein. Und für das in Aktiengesellschaften übliche Vorgehen in klammer Zeit, mittels Kapitalerhöhung frisches Geld von den Aktionären zu holen – das lassen die Anleger nicht mehr mit sich machen. Geht der Börsengang schief, dann ist der Konzern – wie das bei Unternehmen ohne Zukunft so üblich ist – an und für sich ein Fall für den Insolvenzverwalter.
Fünf Jahre nach Fukushima
Davon war natürlich nicht die Rede, als Terium dieser Tage die Werbetour für seinen Hoffnungsträger begann. Den Anfang vor den Investoren aus aller Welt machte er am Donnerstag ausgerechnet in London, exakt eine Woche nach dem Brexit-Referendum. Großbritannien war für RWE schon zuvor ein Sorgenkind. Dort hat sich der Konzern in besseren Zeiten, es war im Jahr 2002, für umgerechnet fünf Milliarden Euro in die Stromversorgung eingekauft. Die Tochtergesellschaft, die immerhin für ein Fünftel des RWE-Umsatzes steht, hat danach vor allem mit haarsträubenden Schlampereien für Aufsehen gesorgt: Weil die Abrechnungen nicht stimmten, kündigten Hunderttausende Kunden. Im vergangenen Jahr wurde die Führungsmannschaft geschasst, jetzt stehen Stellenstreichungen an. Klar ist: Wenn der Brexit die britische Wirtschaft tatsächlich ins Straucheln bringt, wird das auch dem britischen RWE-Ableger schaden. Von den Währungseffekten ganz abgesehen.
Dramatischer noch wäre es, wenn der Börsengang nicht wie gewünscht über die Bühne gehen sollte. Genau das lässt sich nach dem Brexit weniger denn je voraussagen. Schon vor der Abstimmung gab es auf der ganzen Welt vergleichsweise wenige Börsengänge, die erzielten Summen lagen nach einer Übersicht der Beratungsgesellschaft EY um zwei Drittel unter dem Vorjahr. Es könne einen Jahresendspurt geben, sagen die Fachleute zwar. Aber nur, wenn bis dahin klar ist, wohin die Reise geht. Danach sieht es zurzeit nicht aus: Die großen britischen Parteien zerlegen sich gerade selbst, der Rest Europas hat auch noch keinen Plan.
Das müsste RWE weniger kümmern, wäre das Unternehmen nicht in desolater Verfassung. Seit dem Atomunfall von Fukushima vor gut fünf Jahren hat der Konzern 70 Prozent seines Marktwerts eingebüßt. Die Energiewende hat RWE wie keinen anderen Stromerzeuger auf dem falschen Fuß erwischt. Verpönt ist nun ja nicht nur die Atomkraft, sondern wegen des Kohlendioxids auch die Braunkohle. Beide zusammen stehen, wohlgemerkt fünf Jahre nach Fukushima, immer noch für mehr als die Hälfte des von RWE hergestellten Stroms. Wind- und Sonnenkraft dagegen, vom Staat nach Kräften gefördert, machen gerade einmal fünf Prozent aus. Das sind sogar im Vergleich zum ebenfalls von der Energiewende gebeutelten Wettbewerber Eon erschreckende Zahlen. Dessen Grünstrom-Anteil ist immerhin doppelt so hoch. Atomkraft und Braunkohle dagegen machen bei Eon nur ein Viertel der Stromerzeugung aus.
Auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten
Die wuchtigen Kohle- und Atomkraftwerke, einst Sinnbild der Wirtschaftskraft, sind zu Altlasten verkommen und kaum noch etwas wert. Allein im vorigen Jahr hat RWE deshalb gut zwei Milliarden Euro abgeschrieben. In derselben Größenordnung könnte der Anteil am Staatsfonds für den Atomausstieg liegen, der voraussichtlich noch auf den Konzern zukommt. Insgesamt sollen die Atomkraftwerksbetreiber zusätzlich zu den schon dafür reservierten Rückstellungen noch einmal sechs Milliarden Euro lockermachen. Das hat im Frühling eine Regierungskommission vorgeschlagen.
Eigentlich ein faires Angebot für die Branche. Denn der Betrag, mit dem RWE, Eon, Vattenfall und ENBW bisher für den Abbau der Kraftwerke und die Entsorgung der Brennstäbe kalkulieren, zusammen rund 38 Milliarden Euro, dürfte vorne und hinten nicht ausreichen. So hat es die Anwaltskanzlei Warth & Klein im vergangenen Jahr für die Bundesregierung ausgerechnet. Je nachdem, wie sich Zinsen und Inflation entwickeln, könnte sogar fast das Doppelte nötig sein. Dagegen sind sechs Milliarden Euro Aufschlag ein Schnäppchen. Wenn man sie denn zahlen kann.
Das aber ist im Fall von RWE fraglich. Der Konzern hat, um den Schuldenstand zu verringern, schon Tafelsilber verkauft, die Öl- und Gasfördergesellschaft Dea. Aus dem laufenden Geschäft galt es einen Verlust von 170 Millionen Euro zu verbuchen, die Dividende für die Aktionäre fiel folgerichtig aus. Den Kraftwerken fehlt nicht nur die Perspektive für die Zukunft, sondern auch ganz aktuell die Rentabilität. Der rasche Ausbau von Wind- und Sonnenkraft hat zu einem Überangebot auf dem Strommarkt geführt, der Großhandelspreis für eine Megawattstunde hat sich seit Fukushima halbiert. Das RWE-Management verabschiedet deshalb einen Sparplan nach dem anderen. Sogar die dringend nötigen Investitionen in Wind- und Sonnenstrom wurden zuletzt gestrichen. Die Mitarbeiter sollen auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten, die Gewerkschaft IG BCE will sich darauf aber nicht einlassen. Morgen steht die nächste Verhandlungsrunde an.
Tschechische Oligarchen : Investition in Braunkohle als Chance für Ostdeutschland?
Woher sollen da die zusätzlichen Milliarden für den Atomfonds kommen? Manch Insolvenzverwalter, bestätigt einer aus der Zunft, habe angesichts der brisanten Lage längst ein Auge auf RWE geworfen. Weil der Konzern rund 23 Millionen Kunden mit Strom beliefert, kommt zwar immer genug Geld in die Kasse, um die laufenden Rechnungen zu bezahlen. Aber zur Insolvenzpflicht führt es dem Gesetz zufolge auch schon, wenn für ein überschuldetes Unternehmen eine „negative Fortführungsprognose“ besteht, das könnten weitere Abschreibungen auf die Kraftwerke einerseits und höhere Rückstellungen für den Atomausstieg andererseits bewerkstelligen. Schlecht für RWE, dass dieser Passus aus der Insolvenzordnung von den Gerichten bis hinauf zum BGH zuletzt immer stärker betont wurde.
Es wäre die größte Pleite in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Was Peter Terium, der Vorstandsvorsitzende, den potentiellen Investoren in London am Donnerstag zeigte, sah dagegen aus wie eitel Sonnenschein. Innogy heißt die neue Firma, die von der Muttergesellschaft die Stromnetze und die Solar- und Windkraftanlagen mit auf den Weg bekommt. Zu bunten Folien erzählte Terium Anekdoten aus dem Silicon Valley, digital soll es bei Innogy zugehen, und der Firmenname wird überall mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben, als ließen sich so die drei großen Lettern von RWE vergessen machen. Aber da sind die Essener auch wieder spät dran: Die Magie des kleinen i hat Apple vor bald fünfzehn Jahren erfunden, als der erste iPod auf den Markt kam. BMW hat ihn für seine Elektroautos, den i3 und den i8, dreist kopiert, auch das ist Jahre her. Dazu passt, dass der vermeintlich neue Name gleichfalls aus der Klamottenkiste kommt: Innogy, so hieß einst der von RWE übernommene britische Stromversorger, bevor ihn die Essener N-Power tauften.
Am Ende rettet der Staat
Sei’s drum, bis Weihnachten will Terium Käufer für 10 Prozent der neuen Firma finden. Anderthalb Milliarden Euro, heißt es, könnten so zusammenkommen. Und wenn im Jahr drauf mehr Geld nötig ist für die vielen Altlasten von RWE, wird eben das nächste Scheibchen verkauft. Im Zweifel immer so weiter, bis 2022 das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet oder Jahrzehnte später das Atommüllendlager in Betrieb genommen wird. Vielleicht klappt der Zaubertrick, für einen Teil des Konzerns mehr Geld zu bekommen, als RWE zurzeit insgesamt wert ist: Die Verkaufsveranstaltung in London hat den Aktienkurs jedenfalls steigen lassen. Besser, sie machen irgendwas als überhaupt nichts, lautet der sarkastische Kommentar eines Analysten.
Und wenn es nicht klappt, weil der Brexit dazwischenkommt oder eine andere Unwägbarkeit? Zur größten Pleite in der deutschen Wirtschaftsgeschichte wird es selbst dann nicht kommen, wenn die nackten Zahlen sie eigentlich erzwingen würden, glaubt Georg Erdmann, der an der TU Berlin Professor für Energiesysteme ist. Der Staat würde sich schon etwas einfallen lassen, eine Prämie für den Betrieb von Kohlekraftwerke zum Beispiel, um RWE vor dem Untergang zu bewahren, zu groß wäre sonst das Chaos auf dem Strommarkt, zu unsicher die Finanzierung des Atomausstiegs. Stichwort: Systemrelevanz. Damit hat sich bisher noch jeder Konzern am Leben halten lassen, dessen Tage gezählt waren.