Vertretung von Interessen : Adressbuch ist wenig, Strategie ist alles
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Blick in den Bundestag: Wie lässt sich auf die Interessenvertreter Einfluss nehmen? Bild: AP
Der Politikbetrieb in Berlin funktioniert seit der Regierungsübernahme anders. Die Anforderungen an professionelle Interessenvertreter haben sich fundamental gewandelt. Ein Gastbeitrag.
Die deutsche Wirtschaft ist verunsichert. Eine neue politische Generation mit neuem Politikverständnis und Politikstil ist dabei, das tradierte Wechselspiel zwischen Wirtschaft und Politik aufzumischen. Der Bundestag ist mit 300 neugewählten Abgeordneten nicht nur jünger und diverser geworden; eine veränderte Haltung gegenüber politischer Entscheidungsfindung bahnt sich an. Wollen politische Interessenvertreter weiterhin zwischen gesellschaftlichen Belangen und ihrer politischen Umsetzung vermitteln, müssen sie sich lernfähig zeigen.
Eine neue Generation von Politik hat ein unverkrampfteres Verhältnis zur Macht entwickelt. Zutreffend wurden schon die Koalitionsverhandlungen als „professionell“, „vertraulich“ und „zielgerichtet“ beschrieben. Öffentlich ausgetragene Lobbykämpfe blieben aus. Wen die Verhandler nicht involvieren wollten, der blickte mit Staunen von außen auf das Geschehen. Dieses bis ins Detail vorbereitete Vorgehen ist mustergültig für professionalisierte politische Machtprozesse, die ihre externe Legitimität zunehmend nicht nur über interne Parteitagsbeschlüsse sondern auch plebiszitäre Elemente wie Mitgliederbefragungen suchen.
Die Partei – verstanden als eigenständiges Machtsystem – gewinnt gegenüber parlamentarischer Entscheidungsfindung in einer Ampelkoalition an Einfluss. Die streitschlichtende Funktion des Koalitionsausschusses rückt noch stärker ins Machtzentrum.
Der vorpolitische Raum wird durchpolitisiert
Die neue Parteiendynamik einer „demokratischen Mitte“ aus SPD, Union, Grüne und Liberale erkennt, dass sie nunmehr eine hoch volatile Wählerschaft gewinnen muss. Es genügt nicht nur, Plattformen für langfristigen Austausch zu gründen. Politiker müssen mit spontanen Formaten auch schnelllebige, aktuelle Interessenbildung antizipieren. Dabei werden Abgeordnete zu kleinen selbstständigen Kampagnen-Einheiten.
Wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure müssen sich auf diesen neuen Politikstil einstellen. Entscheidungsträger, gerade Parlamentarier, lehnen klassische Gesprächsanfragen ohne Anlass oft ab. Wer kein konkretes Anliegen hat, zudem nur eigene Partikularinteressen verfolgt, findet im politischen Berlin kaum Gehör. Nunmehr überzeugt, wer umfassende und strategische, also auf einer klaren Ziel-Mittel-Kalkulation beruhende Lösungsvorschläge unterbreitet. Damit wird der vorpolitische Raum durchpolitisiert. Wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure müssen darlegen, wie sie die Spannung zwischen berechtigten Partikularinteressen und Gemeinwohlinteressen aufzulösen gedenken und vorparlamentarische Konsensfindungsprozesse einleiten.
Die Logik erfolgreicher Lösungsvorschläge ist durch radikal neue politische Abwägungsparameter umgrenzt. Kategorische Priorität genießen Umweltschutz und Gesundheitsschutz, verbunden mit der Zielvorgabe einer „ökologisch-sozialen“ Marktwirtschaft. Andere – auch grundrechtlich geschützte – Gesellschaftsgüter wie Mobilität, Berufsfreiheit, Prosperität oder Kultur werden eingegliedert oder müssen zurücktreten. In öffentlichen Diskussionen weicht die noch an Habermas orientierte Diskursethik einem emotional ausgetragenen ethischen Rigorismus.
Diese Entwicklung hält aber nicht nur Risiken, sondern auch Chancen bereit. In Anbetracht einer postmodernen Politiklogik stehen wirtschaftliche Akteure unter Transformationsdruck. Sie müssen neue Brücken zur Politik bauen. Erfolg haben sie dabei nur, wenn sie die gesamte Zivilgesellschaft als Allianzpartner in ihr Handeln integrieren. Diese Leadership-Aufgabe erschöpft sich nicht mehr in der Pflege von Adressbüchern. Wirtschaftliche Organisationen müssen strategisch befähigt werden, bei pragmatischer, aber glaubwürdiger politischer Positionierung den Dialog mit der Zivilgesellschaft zu suchen, um den vorparlamentarischen Raum aktiv zu bespielen und Interessenkongruenzen über ideologische Gräben hinweg zu identifizieren.
Ressourcen postmoderner Machtlogik
Politische Interessenvertretung von heute setzt auf den umfassenden Aufbau politischer Strategiefähigkeit und diskurssensitiver Argumentation. Zeitgemäße Public Affairs beruht auf einem gemeinwohlorientierten Partnerschaftsansatz, der Politik durch eigene Mobilisierung mitgestaltet und die gesellschaftliche Positionierung und Verantwortung der eigenen Organisation reflektiert.
Politische Interessenvertretung und Public Affairs erwachsen so zu Architekten dieses Brückenbaus. Sie loten die komplexe Verflechtung von Wirtschaft und Gemeinwohl im Lichte eines neuen Politikstils aus. Glaubwürdigkeit, Professionalität, Transparenz und Vertrauenswürdigkeit dienen dabei als primäre Ressourcen postmoderner Machtlogik. Zur Transparenz verhilft das endlich in Kraft getretene Lobbyregister. Sobald das Lobbyregister den geplanten exekutiven und legislativen Fußabdruck widerspiegelt, ist das Ende des klassischen „Adressbuch-Lobbyismus“ besiegelt.
Für politische Interessenvertreter gilt es, die neue Realität zu erkennen. Wer den Kern des Politikstils der Ampelkoalition versteht und die nun gebotene Strategiefähigkeit beherrscht, dem eröffnen sich viele politische Optionen.
Über den Autor
Dominik Meier ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikberatung und Inhaber des Beratungsunternehmens Miller & Meier Consulting.