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IT-Profis in Kiew und Minsk : Der Krieg in der Ukraine gefährdet den deutschen IT-Mittelstand

  • -Aktualisiert am

Programmierer in Minsk Bild: Mauritius

Belarus und die Ukraine sind Zentren der europäischen Software-Entwicklung. Die Programmierer dort stehen jetzt vor dem Nichts – und viele deutsche Mittelständler mit ihnen.

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          Spricht man dieser Tage mit dem Frankfurter Softwarehersteller Billwerk , blickt man in angespannte Gesichter. „Belarus als Entwickler-Standort wird auch nach einem Ende des Krieges nicht wiederkehren“, sagt Geschäftsführer Ricco Deutscher. „Ich bin deshalb ganz sicher: Der Innovations- und Entwicklungsstau in der deutschen IT-Branche wird kommen.“

          Der Krieg in der Ukraine besorgt die deutsche Wirtschaft bislang vor allem aus einer Produktionsperspektive: Deutsche Unternehmen, die dort Werke betreiben oder von dort Produkte beziehen, sind plötzlich von ihrer Produktion abgeschnitten. Mitte der Woche teilten Volkswagen und BMW mit, die Autoproduktion in mehreren Werken anhalten zu müssen, weil Zulieferteile aus der Ukraine fehlen.

          Weniger bekannt ist jedoch, dass Deutschland ebenso auf Fachkräfte aus der Ukraine und aus Belarus angewiesen ist – vor allem die IT-Branche. Denn dort sitzen zahlreiche Entwickler, die Software für deutsche Mittelständler programmieren. „Die Fachkräfte aus Belarus und der Ukraine waren in den vergangenen Jahren ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Entwicklung deutscher Softwareunternehmen“, sagt Deutscher. Sein Unternehmen entwickelt mit 120 Mitarbeitern Software, mit der sich digitale Abo-Geschäftsmodelle automatisiert abrechnen lassen, etwa bei Medienunternehmen. „Wenn wir uns nur auf deutsche Entwickler hätten verlassen müssen, wären wir niemals so weit gekommen. Es gibt ja kaum welche.“

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          200.000 Entwickler in der Ukraine

          Dem niederländischen Personaldienstleister Daxx zufolge, der sich auf das Outsourcing von Softwareentwicklung nach Osteuropa spezialisiert hat, gibt es in der Ukraine rund 200.000 Entwickler. Das macht das Land in der IT-Branche nach Russland zum zweitgrößten Fachkräftereservoir in Osteuropa. Ähnlich ist die Situation in Belarus, wo Billwerk viele Entwickler beschäftigte. Der Standort des Unternehmens in Minsk war anfänglich größer als der Hauptsitz in Frankfurt. „Man muss wissen, dass es eine sehr gute und über Jahre entwickelte IT-Branche in Minsk gibt“, sagt Deutscher. Das Bildungssystem rund um Digitalisierung sei dort zum Teil besser aufgestellt als in Deutschland, bei zugleich deutlich niedrigeren Löhnen.

          Eine Studie des Digitalverbandes Bitkom aus dem Jahr 2005 kam zum Ergebnis, dass die Lohnkosten in Belarus und der Ukraine damals nur 11 Prozent der Kosten in Deutschland betrugen. Durch die Möglichkeiten digitaler Zusammenarbeit konnten die Programmierer von Belarus aus arbeiten, ohne umziehen zu müssen. Die Regierung förderte die Anwerbung durch westliche Softwareunternehmen mit Steuererleichterungen. Die Entwickler arbeiteten gerne für deutsche Unternehmen, denn diese zahlten im lokalen Vergleich immer noch deutlich überdurchschnittlich. „Die Arbeit als Programmierer für westliche Unternehmen ist eine der wenigen Möglichkeiten, in Belarus und der Ukraine ein Spitzengehalt zu verdienen“, sagt Deutscher.

          Dieses sogenannte „Nearshoring“ war lange Zeit ein gutes Geschäft für beide Seiten. Bis das Regime von Machthaber Alexandr Lukaschenko immer repressiver wurde. Nach den manipulierten Wahlen im Sommer 2020, die zu Massenprotesten und einem Generalstreik führten, verließen viele Fachkräfte das Land. Neue Entwickler anzuwerben sei damit unmöglich geworden, berichtet Deutscher. Also gründete Billwerk einen neuen Standort im polnischen Danzig und konzentrierte sich fortan darauf, seine Mitarbeiter dorthin umzusiedeln. Viele nahmen das Angebot an, von ursprünglich 20 Billwerk-Mitarbeitern in Belarus und einem in der Ukraine blieben zuletzt nur noch zehn in Minsk. Viele von den gebliebenen hatten gerade ein Haus gebaut oder mussten für Familienangehörige sorgen – aus seinem Heimatland auszuwandern ist nicht für jeden einfach.

          Persönliche Sorge um Mitarbeiter

          Da Billwerk so schon frühzeitig damit begann, seine Mitarbeiter aus dem Krisengebiet zu holen, steht das Unternehmen heute besser da als viele seiner Branchenkollegen. Auch Großunternehmen wie Mercedes und viele amerikanische Konzerne beschäftigen Programmierer in Belarus oder der Ukraine. Auf Nachfrage heißt es beim IT-Verband Bitkom, dass bei allen Unternehmen Versuche liefen, zunächst Kontakt zu Mitarbeitern dort zu bekommen und sie dann, so möglich, außer Landes zu bringen. Zunächst können viele Entwickler aber jedenfalls nicht mehr weiterprogrammieren. Verzögerungen in laufenden Projekten sind die Folge. Zum Teil seien Mitarbeiter freigestellt worden, sagt eine Bitkom-Sprecherin.

          Für Billwerk kommt das nicht infrage. Das Unternehmen stehe zu seinen belarussischen Mitarbeitern, betont Deutscher. Doch man ist in großer Sorge, dass man ihnen von einem gewissen Punkt an nicht mehr helfen kann. Billwerk befürchtet, dass im Zuge der Sanktionen nach Russland auch Belarus vom Zahlungssystem Swift abgekoppelt werden wird. Hinzu kommt eine persönliche Sorge um die Mitarbeiter: „Die Lage zurzeit ist angespannt, weil wir nicht wissen, wie lange Belarussen überhaupt noch ausreisen dürfen – vor allem Männer, sollten sie in Belarus einberufen werden“, sagt Deutscher.

          Viele der Entwickler seien jünger als 30 Jahre und damit attraktiv für die Armee. Um einem Swift-Ausschluss zuvorzukommen, hat Billwerk gerade einen großen Eurobetrag an seine Minsker Tochtergesellschaft überwiesen. Von dem Geld könne man für etwa acht Monate die Gehälter der verbliebenen Mitarbeiter zahlen, sagt Finanzchef Leigh Hooper. „Wenn die Krise dann nicht vorbei und Belarus vom Swift-System abgekoppelt ist, ist aus die Maus. Dann können wir unsere Mitarbeiter nicht weiter bezahlen.“

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