Entspannungsindustrie : Mach mal langsam!
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Ratgeber-Literatur boomt
Das Tolle an der Entschleunigung nun ist: Wer entschleunigt, tut nicht nur sich selbst einen Gefallen, sondern auch dem Arbeitgeber (weil man dem Burn-out-Ausfall vorbeugt), den Krankenkassen und damit der Gesellschaft. Deshalb hat sich eine ganze Industrie entwickelt, die dem wachsenden Bedürfnis nach Entschleunigung mit vielfältigen Dienstleistungen und Produkten nachkommt. Sie wirbt um uns, die gestressten Entrepreneure unseres Lebens, um uns fit zu machen.
Es boomt die Ratgeber-Literatur mit Tipps zur richtigen Entspannung, zum Aussteigen, zur Work-Life-Balance. Um nur zwei der Titel herauszugreifen: In „Hört auf zu arbeiten!“ stiften die Autoren die Leser dazu an, „das zu tun, was wirklich zählt“ und in „Die erschöpfte Gesellschaft“ rät der Psychologe Stefan Grünewald zu mehr Träumerei, um Kreativität freizusetzen.
Unternehmen unterstützen Sabbaticals
Jedes Hotel wirbt heute mit Entschleunigungsoasen, mit „Donothing“-Wochenenden und Achtsamkeitstagen. Jeder Coach bietet entsprechende Seminare und Tools zu Zeitlupentraining, Zeitmanagement, Sinnorientierung oder Business-Qigong. Entspannungstechniken aus Fernost, besonders Yoga, erleben regen Zulauf, ebenso Schrotkuren und Ayurveda-Kurse. Keine Krankenkasse ohne autogenes Training, keine Volkshochschule ohne progressive Muskelentspannung, kein Kloster ohne „Ora et labora“-Seminar, schließlich wusste schon der heilige Benedikt vom rechten Maß und dem nötigen Wechsel zwischen Arbeit und Kontemplation. Selbst die Kunst macht das Phänomen zum Thema: „Kunst der Entschleunigung - von Casper David Friedrich bis Ai Weiwei“ hieß voriges Jahr eine Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg.
Auch die Unternehmen ziehen mit beim großen Downshiften, seit in der Belegschaft die Fehlzeiten wegen psychischer Erkrankungen bedenklich in die Höhe schnellen: Sie bieten den Mitarbeitern Naturerlebnisse auf Firmenkosten an, Slow-Food-Seminare, „Gesund und Fit“-Tage mit Olympiasiegern, Psychotherapeuten oder Entspannungstherapeuten. Sie unterstützen Sabbaticals und Elternzeit und drängen ihre Mitarbeiter geradezu, ihre Home-Office-Tage wahrnehmen.
Wir haben das Innehalten verlernt
Nur hilft das? Und was davon hilft wem? Woher nimmt der, der es bisher nicht konnte, plötzlich die Gelassenheit, sich am ersten warmen Frühlingstag nachmittags einfach mal ins Eiscafé zu setzen? Sich den Panzer von der Sonne wärmen zu lassen? Und zwar, ohne gleich wieder weg zuspringen oder das Smartphone zu zücken. „Das ist schwieriger als gedacht“, weiß Manfred Koch, ein Philosophie- und Germanistikprofessor aus Basel, der ein Buch geschrieben hat über „Faulheit: eine schwierige Disziplin“.
Denn längst haben wir das Innehalten, das kontemplative Verweilen, verlernt. Und das nicht nur in der Arbeit, sondern generell. Auch in der Freizeit. Auch da werden mehr Kräfte aufgezehrt als neu getankt. Weil viele, wenn sie zwei Stunden Zeit haben, nicht einfach spazieren gehen, sondern die Zeit „nutzen“, um für den Marathon zu trainieren. Weil sie spätestens nach fünf Minuten Ruhe nervös werden, statt auf dem Sofa zu sitzen, Musik zu hören, die Gedanken schweifen zu lassen oder diese Geschichte zu Ende zu lesen. Es gäbe doch noch so vieles zu erledigen.
Wenn Entspannung zu Stress wird
Manfred Koch nennt es „das typische Beschleunigungsphänomen“. Wer nicht zur Ruhe kommt, ist irgendwann erschöpft, und was tut er dagegen? „Er kommt um 20 Uhr nach Hause, setzt sich vor den Fernseher und schüttet vier Bier in sich hinein. Das ist kein guter Müßiggang.“ Es ist in der Regel ganz sicher nicht das, was der Körper, die Seele in dem Augenblick braucht. Wer sähe das nicht? Trotzdem spielen sich solch hilflosen Szenarien tagtäglich in viel zu vielen Wohnzimmern ab.
Irgendwo ist uns die Mündigkeit über unser Leben wohl verlorengegangen. Wie sonst könnte es sein, dass wir nicht mal mehr die vitalen Funktionen unseres Körpers steuern können? Wer die richtige Balance verloren hat, bucht Kurse, um sie wiederfinden - die Kunst des Durchatmens, des richtigen Laufens, des Hörens, In-sich-Hineinhörens und Schauens, des Denkens und der richtigen Ernährung.
Das mag alles guttun, das mag entspannen und die große Sehnsucht vorübergehend befriedigen. Aber eine allzu große Erwartung sollte niemand in die Kurse stecken, warnt Philosoph Koch. „Sonst geht der Stress erst richtig los.“ Dann wird die Entschleunigung selbst zum Stress.